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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Aber wir müssen nur wenige Hundert Schritte gehen, die sandigen Wege verlassen und in den Wald eintauchen, und schon hören die beiden und die Stadt auf zu existieren.
    Wir finden einen abgeschiedenen Platz unter einer uralten Zeder. Ich ziehe meinen Frack aus und lege ihn auf den Boden, lockere meine weiße Krawatte, setze mich neben sie und lege meinen Arm um sie.
    »Du ruinierst deinen Frack«, sagt sie.
    »Das spielt keine Rolle. Ich werde ihn eine Zeit lang sowieso nicht brauchen.«
    »Gehst du weg?«
    »So könnte man es nennen.«
    Dann erkläre ich ihr, was ich vorhabe. Den Entschluss habe ich während des Konzerts gefasst, genauer gesagt bei Wagner, der immer eine berauschende Wirkung auf mich hat.
    »Ich werde die Darstellung der Ereignisse durch die Regierung öffentlich infrage stellen.«
    Ich mache mir keine Illusionen darüber, was dann passieren wird. Ich kann mich kaum beklagen, dass man mich nicht gewarnt hätte. »Schätze, ich sollte den Monat in der Festung Mont-Valérien als eine Art Probelauf sehen.« Ihr zuliebe setze ich ein tapferes Gesicht auf. Im Innern bin ich weniger zuversichtlich. Ich frage mich: Was ist das Schlimmste, was ich zu erwarten habe? Sobald die Gefängnistüren sich hinter mir schließen, ist mein Leben in Gefahr. Damit muss ich rechnen. Die Haft wird unangenehm werden, und sie kann dauern. Wochen, Monate, vielleicht sogar ein Jahr oder länger, aber das sage ich Pauline nicht. Die Regierung hat ein Interesse daran, das Gerichtsverfahren in die Länge zu ziehen, und wenn nur in der Hoffnung, dass Dreyfus in der Zwischenzeit stirbt.
    »Hört sich ganz so an, als hättest du dich schon entschieden«, sagt sie, als ich fertig mit meinen Erklärungen bin.
    »Wenn ich jetzt zurückweiche, weiß ich nicht, ob sich jemals wieder die Chance ergibt. Für den Rest meiner Tage würde ich in dem Bewusstsein leben müssen, dass ich der Herausforderung nicht gewachsen war. Ich würde mich selbst zerstören – würde nie wieder imstande sein, ein Gemälde zu betrachten, einen Roman zu lesen oder Musik zu hören, ohne das schleichende Gefühl der Scham zu verspüren. Es tut mir nur leid, was ich dir damit alles angetan habe.«
    »Hör auf, dich zu entschuldigen. Ich bin kein Kind. Das habe ich mir selbst angetan, als ich mich in dich verliebt habe.«
    »Und du? Wie ist es so allein?«
    »Ich habe entdeckt, dass ich es auch allein schaffen kann. Eine seltsam erfrischende Erfahrung.«
    Wir liegen schweigend da, halten uns an den Händen und schauen durch die Zweige zu den Sternen. Ich glaube zu spüren, wie sich unter uns die Erde dreht. In den Tropen Südamerikas wird es gerade erst dunkel. Ich denke an Dreyfus und versuche mir vorzustellen, was er tut, frage mich, ob sie ihn immer noch jede Nacht an sein Bett ketten. Unsere Schicksale sind jetzt vollständig miteinander verwoben. Ich bin so abhängig von seinem Überleben wie er von meinem: Wenn er das übersteht, dann überstehe ich das auch, wenn ich wieder freikomme, dann kommt auch er frei.
    Pauline und ich liegen noch lange unter dem Baum und genießen die letzten gemeinsamen Stunden, bis die Sterne in der Morgendämmerung verblassen. Dann stehe ich auf, nehme meinen Frack, lege ihn ihr um die Schultern, und zusammen gehen wir Arm in Arm zurück in die schlafende Stadt.

22
    Am nächsten Tag verfasse ich mit der Hilfe von Laboris einen offenen Brief an die Regierung. Auf Laboris Rat hin adressiere ich den Brief nicht an den Kriegsminister, unseren got tesfürchtigen und unbeugsamen Brutus, sondern an unseren antiklerikalen neuen Premierminister Henri Brisson:
    Herr Premierminister,
    bis zum heutigen Tag war es mir nicht möglich, mich offen zu den geheimen Dokumenten zu äußern, die angeblich die Schuld von Hauptmann Alfred Dreyfus beweisen. Nachdem der Herr Kriegsminister vom Rednerpult der Abgeordnetenkammer drei dieser Dokumente verlesen hat, halte ich es für meine Pflicht, Sie davon zu unterrichten, dass ich in der Lage bin, vor jedem zuständigen Gericht zu belegen, dass die beiden Dokumente, datierend aus dem Jahr 18 9 4, nicht mit Dreyfus in Verbindung gebracht werden können und das aus dem Jahr 1 8 9 6 datierte Dokument alle Anzeichen einer Fälschung aufweist. Es erscheint mir deshalb naheliegend, dass man die Gutgläubigkeit des Herrn Kriegsministers missbraucht hat, was gleichermaßen für all jene gilt, die an die Bedeutung der beiden ersten Dokumente und die Echtheit des dritten Dokuments geglaubt haben.
    Mit

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