Intrige (German Edition)
Ich kann erst nicht erkennen, wer da zu mir spricht. »Labori? Was ist los?«
»Henry ist verhaftet worden.«
»Mein Gott? Weshalb?«
»Die Regierung hat gerade eine Erklärung herausgegeben. Hören Sie zu: ›Heute hat im Büro des Kriegsministers Oberstleutnant Henry zugegeben, der Verfasser des Schrift stücks von 1 89 6 zu sein, in dem Dreyfus namentlich genannt wird. Der Kriegsminister hat umgehend die Verhaftung angeordnet, worauf der Beschuldigte in die Festung Mont-Valérien gebracht wurde.‹« Labori wartet auf meine Reaktion. »Picquart? Haben Sie das verstanden?«
Ich brauche ein paar Sekunden, um das zu verarbeiten. »Warum hat er gestanden?«
»Das weiß noch keiner. Die Erklärung ist erst ein paar Stunden alt. Mehr haben wir noch nicht.«
»Und was ist mit den anderen? Boisdeffre, Gonse … gibt es irgendwas über die?«
»Nein, aber die sind alle erledigt. Sie haben alles auf die sen Brief gesetzt.« Labori beugt sich bis zum Gitter vor. Durch das dichte Eisengeflecht kann ich seine blauen, vor Aufregung leuchtenden Augen sehen. »Henry hätte die Fälschung doch nie auf eigene Faust gemacht, nicht wahr? Oder halten Sie das für möglich?«
»Unvorstellbar. Wenn sie es ihm nicht direkt befohlen haben, dann müssen sie zumindest gewusst haben, was er vorhat.«
»Exakt! Sie wissen, was das bedeutet, oder? Wir können ihn in den Zeugenstand rufen. Allein die Vorstellung! Ich werde alles über diese Sache aus ihm herauskitzeln. Und alles andere, was er weiß, bis zurück zum allerersten Kriegsprozess.«
»Ich würde zu gern wissen, warum er nach so langer Zeit gestanden hat.«
»Das erfahren wir bestimmt morgen. Wie auch immer, das sind jedenfalls herrliche Neuigkeiten zum Einschlafen, oder? Ich komme morgen wieder. Gute Nacht, Picquart.«
»Danke, gute Nacht.«
Ich werde in meine Zelle zurückgebracht.
Die animalischen Geräusche sind heute Nacht besonders laut. Aber das ist nicht der Grund, warum ich nicht schlafen kann. Der Gedanke an den in der Festung Mont-Valérien einsitzenden Henry hält mich wach.
Der nächste Tag ist der schlimmste, den ich je in einem Gefängnis verbracht habe. Ausnahmsweise kann ich mich nicht auf mein Buch konzentrieren. Übellaunig schleiche ich in meiner winzigen Zelle umher, konstruiere und verwerfe Szenarien über das, was passiert sein könnte, was gerade jetzt passiert und was als Nächstes passieren könnte.
Die Stunden schleppen sich dahin. Das Abendessen wird gebracht. Es beginnt zu dämmern. Gegen neun Uhr schließt der Wärter meine Zelle auf und sagt, ich solle mitkommen. Wie lang der Weg diesmal ist! Das Komische ist, als ich schließlich am Ende des Korridors den Besucherraum betrete und Labori sich hinter dem Gitter zu mir umdreht, weiß ich genau, sogar noch bevor ich seinen Gesichtsausdruck erkennen kann, was er im nächsten Augenblick sagen wird.
»Henry ist tot.«
Ich schaue ihn an und lasse die Nachricht sacken. »Wie ist es passiert?«
»Er lag heute Nachmittag mit durchschnittener Kehle in seiner Zelle in der Festung Mont-Valérien. Sie sagen natürlich, dass er sich selbst umgebracht hat. Merkwürdig, immer wieder die gleiche Geschichte!« Bei den nächsten Worten klingt seine Stimme besorgt. »Alles in Ordnung, Picquart?«
Ich muss mich von ihm abwenden. Ich bin mir nicht sicher, warum ich weine. Vielleicht vor Müdigkeit. Oder vor Anspannung. Vielleicht einfach über Henry, den ich trotz allem nie richtig hassen konnte. Dafür habe ich ihn zu gut verstanden.
•
Ich denke oft an Henry. Sonst habe ich kaum etwas zu tun.
Ich sitze in meiner Zelle und grübele über die Einzelheiten seines Todes nach, die im Laufe der folgenden Wochen ans Tageslicht kommen. Wenn ich dieses Rätsel aufklären kann, überlege ich, dann kann ich vielleicht alles aufklären. Aber ich kann mich nur auf das stützen, was in den Zeitungen steht, und auf den bruchstückhaften Tratsch, den Labori in den Justizkreisen aufschnappt, und am Ende muss ich mir eingestehen, dass ich die ganze Wahrheit wahrschein lich nie erfahren werde.
Ich weiß, dass Henry während einer grausamen Befragung im Büro des Kriegsministers am 30 . August zugeben musste, dass der sichere Beweis eine Fälschung sei. Er hatte keine andere Wahl, da die Beweise gegen ihn unwiderlegbar waren. Anscheinend hat der neue Kriegsminister Cavaig nac, der in allen Angelegenheiten von der eigenen Korrekt heit in höchstem Maße überzeugt ist, als Reaktion auf meinen Fälschungsvorwurf einen
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