Intrige (German Edition)
hochachtungsvollen Grüßen,
Georges Picquart
Der Brief erreicht den Premierminister am Montag. Am Dienstag erhebt die Regierung auf Grundlage der Pellieux-Untersuchung Anklage gegen mich, in der ich beschuldigt werde, gesetzwidrig Schriftstücke und Dokumente, die die Verteidigung und Sicherheit des Landes berühren, enthüllt zu haben. Ein Ermittlungsrichter wird eingesetzt. Am Nach mittag desselben Tages wird – ohne meine Anwesenheit, ich erfahre erst am nächsten Morgen aus den Zeitungen davon – meine Wohnung durchsucht. Auf der Straße haben sich mehrere Hundert Zuschauer versammelt, die die Aktion verfolgen und höhnisch »Verräter!« brüllen. Am Mittwoch werde ich in die Amtsräume des von der Regierung eingesetzten Richters Albert Fabre zitiert, die sich im dritten Stock des Justizpalastes befinden. In seinem Vorzimmer werden Louis Leblois und ich von zwei Kriminalbeamten verhaftet.
»Ich habe dich gewarnt«, sage ich zu ihm. »Überlege dir genau, ob du dich in die Sache hineinziehen lässt, habe ich gesagt. Ich habe das Leben so vieler Menschen ruiniert.«
»Ach was, Georges. Wird bestimmt ziemlich interessant, zur Abwechslung einmal von der anderen Seite einen Blick auf unser Rechtssystem zu werfen.«
Richter Fabre kann ich zumindest zugutehalten, dass ihm offenbar die ganze Vorgehensweise etwas peinlich ist. Er erklärt, dass ich für die Dauer seiner Ermittlungen im Gefängnis La Santé inhaftiert werde, während Louis gegen Kaution auf freiem Fuß bleibt. Im Innenhof bin ich glücklicherweise geistesgegenwärtig genug, Louis meinen Spazierstock zu geben, bevor ich unter den Augen von mehreren Dutzend Reportern in den Gefängniswagen steige. Bei meiner Ankunft in La Santé muss ich ein Einweisungsformular ausfüllen. In die Spalte für Religion schreibe ich: keine.
Wie sich herausstellt, ist La Santé nicht Mont-Valérien: kein separates Schlafzimmer, keine separate Toilette, kein Blick auf den Eiffelturm. Ich werde in eine winzige, vier mal zweieinhalb Meter große Zelle gesperrt. Ich habe ein Bett und einen Nachttopf, das ist alles. Durch das kleine, vergitterte Fenster sehe ich in den Gefängnishof. Es ist Hochsom mer, fünfunddreißig Grad, die durch gelegentliche Gewitter gelindert werden. Die abgestandene Luft ist heiß wie in einem Backofen und riecht wie in einer Kaserne nach dem Essen, den Fäkalien und dem Schweiß von tausend Männern. Ich esse in meiner Zelle und bleibe dreiundzwanzig Stunden am Tag eingesperrt, damit ich nicht mit anderen Häftlingen sprechen kann. Aber ich kann sie hören, besonders nachts, wenn das Licht gelöscht ist und man nichts zu tun hat, als dazuliegen und zu lauschen. Ihre Rufe sind wie die Schreie von Tieren im Dschungel, seelenlos, geheim nisvoll, beunruhigend. Oft höre ich ein Heulen und Kreischen, ein stammelndes Flehen um Gnade, sodass ich damit rechne, dass die Wärter mir am Morgen erzählen werden, in der Nacht sei irgendein grauenhaftes Verbrechen geschehen. Aber wenn der Tag anbricht, geht alles seinen üblichen Gang.
So versucht die Armee, meinen Willen zu brechen.
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Es gibt Abweichungen von der täglichen Routine. Bewacht von zwei Kriminalbeamten, werde ich ein paarmal die Woche mit dem Gefängniswagen zum Justizpalast gebracht, wo Richter Fabre sehr langsam Stück für Stück das Beweismaterial mit mir durchgeht, über das ich mich schon so viele Male zuvor ausgelassen habe.
Wann sind Sie zum ersten Mal auf Major Esterházy aufmerksam geworden?
Wenn Fabre sein Tagespensum mit mir erledigt hat, darf ich oft noch in dem Büro nebenan mit Labori sprechen. Der Wikinger der Pariser Anwaltschaft ist jetzt offiziell mein Rechtsbeistand, und durch ihn bleibe ich über den Fortgang unserer verschiedenen Schlachten auf dem Laufenden. Die Nachrichten sind unterschiedlich. Zola hat seine Berufungs verhandlung verloren und ist nach London geflohen. Richter Bertulus hat gegen Esterházy und Vier-Finger-Marguerite Anklage wegen Fälschung erhoben und beide verhaften lassen. Wir stellen den offiziellen Antrag an den Staatsanwalt, wegen des gleichen Delikts auch du Paty verhaften zu lassen. Der Staatsanwalt entscheidet, dass das nicht Gegenstand von Bertulus’ Ermittlungen ist.
Erzählen Sie mir doch bitte noch einmal von den Umständen, unter denen Sie in Besitz des Petit Bleu gelangt sind …
Etwa einen Monat nach meiner Verhaftung tritt Ermittlungsrichter Fabre in das Stadium des Verfahrens ein, das von den frustrierten Dramatikern des
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