Intrige (German Edition)
französischen Rechtssystems so geliebt wird: die Konfrontation mit Zeugen. Das Ritual ist immer das Gleiche. Erst werde ich zum zwanzigsten Mal zu einem bestimmten Vorfall befragt – der Rekon struktion des Petit Bleu, der Brieftaubenakte, die ich Louis gezeigt habe, die an die Presse durchgesickerten Informationen. Dann drückt der Richter auf einen elektrischen Klingelknopf, und einer meiner Feinde gibt seine Version des Ereignisses zum Besten. Danach darf ich dann darauf antworten. Während dieser Auftritte behält uns der Richter genau im Auge – als wollte er mit Röntgenstrahlen unsere Seelen durchleuchten und herausfinden, wer von uns lügt. So stehe ich noch einmal von Angesicht zu Angesicht Gonse, Lauth, Gribelin, Valdant, Junck und sogar dem Concierge Capiaux gegenüber. Ich muss sagen, für freie, angeblich triumphierende Männer sehen sie blass und sogar mitgenommen aus, besonders Gonse, der an einem nervösen Tic unter dem linken Auge zu leiden scheint.
Der größte Schock für mich ist jedoch der Auftritt von Henry. Er betritt den Raum, ohne mich anzuschauen, und erzählt mit monotoner Stimme seine Version der Geschichte, wie er Louis und mich mit dem Geheimdossier gesehen hat. Die frühere Kraft seiner Stimme ist dahin, und er hat derart abgenommen, dass die ganze Hand unter dem Kragen seines Uniformrocks verschwindet, wenn er sich den Schweiß vom Nacken wischt. Er hat gerade seinen Bericht beendet, als es an der Tür klopft, Fabres Sekretär hereinkommt und sagt, der Richter werde im Büro nebenan am Telefon verlangt. »Es ist dringend, der Justizminister.«
»Meine Herren, wenn Sie mich kurz entschuldigen würden«, sagt Fabre.
Henry sieht ihm besorgt hinterher. Fabre schließt die Tür, und wir sind allein. Sofort habe ich den Verdacht, dass das eine Falle ist. Ich schaue mich um, ob sich irgendwo im Raum ein Zuhörer verstecken könnte, kann aber kein mög liches Versteck entdecken. Nach ein, zwei Minuten kann ich meine Neugier nicht mehr im Zaum halten.
»Nun, Herr Oberstleutnant, was macht Ihre Hand?«, frage ich.
»Ach die.« Er schaut nach unten und dehnt die Finger, als wollte er prüfen, ob sie sich auch wirklich bewegen. »Alles in Ordnung.« Er dreht sich um und blickt mich an. Mit dem Fleisch auf den Backen scheint ihm auch der Verteidigungs wille abhandengekommen zu sein. Sein Gesicht ist faltig und das schwarze Haar von grauen Strähnen durchzogen. »Und wie geht es Ihnen?«
»Einigermaßen.«
»Schlafen Sie gut?«
Die Frage überrascht mich. »Ja. Und Sie?«
Er räuspert sich lautstark. »Nicht so gut, Herr Oberstleut nant … oder besser: Monsieur. Ich schlafe nicht viel. Eines kann ich Ihnen verraten: Ich habe die Schnauze gestrichen voll von dieser beschissenen Geschichte.«
»Wenigstens etwas, worauf wir uns einigen können.«
»Wie übel ist es im Gefängnis?«
»Na ja, sagen wir so: Stinkt noch mehr als in unseren alten Büros.«
»Ha!«, sagt er, während er sich vertraulich zu mir vorbeugt. »Um ehrlich zu sein, ich habe um meine Versetzung gebeten. Weg vom Geheimdienst, zurück zu meinem Regiment. Ist gesünder.«
»Ja, kann ich gut verstehen. Und Ihrer Frau und dem Kleinen, wie geht es denen?«
Er öffnet den Mund, hält dann jedoch inne und schluckt. Zu meiner Überraschung steigen ihm plötzlich Tränen in die Augen, und er dreht sich genau in dem Augenblick zur Seite, als Fabre ins Zimmer zurückkommt.
»Also, meine Herren«, sagt er. »Das Geheimdossier …«
•
Zwei Wochen später liege ich abends auf meiner dünnen Gefängnismatratze. Das Licht ist schon ausgeschaltet. Ich kann nicht mehr lesen und warte auf den Beginn der nächt lichen Kakofonie, als der Riegel an der Zellentür zurückge schoben wird, der Schlüssel ins Schloss gesteckt und herumgedreht wird. Dann blendet mich ein greller Lichtstrahl.
»Aufstehen, folgen Sie mir.«
La Santé ist nach den neuesten wissenschaftlichen Prinzipien gebaut – die Zellentrakte gehen strahlenförmig von einem Zentralbau ab, in dem der Gefängnisdirektor und das Personal ihre Büros haben. Ich folge dem Wärter durch den langen Korridor bis zum Verwaltungsblock in der Mitte. Er schließt eine Tür auf, führt mich durch einen gewundenen Gang bis zu einem kleinen, fensterlosen Besucherraum. In der Mitte ist ein Stahlgitter zwischen den Wänden eingelassen. Der Wärter wartet draußen, aber die Tür steht offen.
Auf der anderen Seite des Gitters höre ich eine Stimme. »Picquart?«
Das Licht ist trüb.
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