Intrige (German Edition)
anderen Ende der Leitung tut sich etwas. Ménard runzelt die Stirn. Zermürbend langsam senkt er den Arm. »Schuldig«, sagt er leise. »Fünf zu zwei Stimmen. Strafmaß auf zehn Jahre Gefängnis reduziert.«
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An einem Spätnachmittag gut eine Woche später bekomme ich Besuch von Mathieu Dreyfus. Ich bin überrascht, ihn vor meiner Tür stehen zu sehen. Er ist noch nie zuvor zu mir nach Hause gekommen. Zum ersten Mal sieht er grau und angegriffen aus, sogar die Blume in seinem Knopfloch ist verwelkt. Er sitzt auf der Kante meines Sofas und dreht mit den Händen nervös seine Melone hin und her. Er nickt zu meinem Sekretär. Der ist mit Papieren übersät, und die Schreibtischlampe ist angeschaltet. »Verzeihung, ich wollte Sie nicht bei der Arbeit stören.«
»Macht nichts. Ich habe mir gedacht, ich bringe das alles zu Papier, solange die Erinnerungen noch frisch sind. Es ist aber nicht zur Veröffentlichung bestimmt – zumindest nicht zu meinen Lebzeiten. Darf ich Ihnen etwas anbieten?«
»Nein danke. Ich bleibe nicht lange. Ich fahre mit dem Abendzug nach Rennes.«
»Ah, wie geht es ihm?«
»Offen gesagt, Monsieur Picquart, ich befürchte, er bereitet sich aufs Sterben vor.«
»Also wirklich, Monsieur Dreyfus!«, sage ich und setze mich ihm gegenüber auf einen Stuhl. »Wenn Ihr Bruder vier Jahre auf der Teufelsinsel übersteht, dann hält er auch noch ein paar Monate im Gefängnis aus. Ich bin mir sicher, viel länger kann es nicht mehr dauern. Der Regierung wird ihn bestimmt noch vor der Weltausstellung freilassen, ein Boykott ist das Letzte, was die wollen. Die können ihn unmöglich im Gefängnis sterben lassen.«
»Zum ersten Mal, seit sie ihn nach seiner Rückkehr ein gesperrt haben, hat er gesagt, dass er seine Kinder sehen will. Können Sie sich vorstellen, was das für Auswirkungen auf sie hat, wenn sie ihren Vater in einer solchen Verfassung sehen? Das würde er ihnen nie antun, wenn er sich nicht verabschieden wollte.«
»Sind Sie sich sicher, dass es so schlecht um seine Gesundheit steht? Hat ihn ein Arzt untersucht?«
»Die Regierung hat einen Spezialisten nach Rennes ge schickt. Er sagt, Alfred leidet an Fehlernährung und Malaria und möglicherweise an Rückenmarksschwindsucht. Wenn er im Gefängnis bleibt, wird er nicht mehr lange leben, meint der Arzt.« Er schaut mich elend an. »Deshalb bin ich gekommen … ich wollte Ihnen sagen, dass … es tut mir wirklich leid … dass wir uns entschieden haben, das Angebot auf Begnadigung anzunehmen.«
Eine Pause. »Verstehe.« Ich wünschte, meine Stimme würde sich etwas mitfühlender anhören. »Dann liegt also das Angebot schon auf dem Tisch?«
»Der Premierminister macht sich Sorgen, dass das Land auf Dauer gespalten werden könnte.«
»Das glaube ich gern.«
»Ich weiß, dass das ein Schlag für Sie ist, und ich verstehe, dass Sie das in eine unangenehme Lage bringt …«
»Da haben Sie ganz recht«, platzt es aus mir heraus. »Das ist ein Schuldeingeständnis.«
»Genau genommen, ja. Aber Jaurès hat eine Erklärung für Alfred aufgesetzt, die er bei Verlassen des Gefängnisses verlesen soll.« Er zieht ein zerknittertes Blatt Papier aus der Innentasche seiner Jacke und gibt es mir.
Die Regierung der Republik schenkt mir die Freiheit. Diese bedeutet mir jedoch nichts ohne meine Ehre. Beginnend mit dem heutigen Tag werde ich darauf hinarbeiten, den schrecklichen Justizirrtum zu korrigieren, dessen Opfer ich nach wie vor bin …
Es geht noch weiter, aber ich habe genug gelesen. Ich gebe ihm das Blatt zurück. »Nun, das sind ehrenwerte Worte«, sage ich bitter. »Wie auch anders. Wenn es um ehrenwerte Worte geht, kann man sich auf Jaurès immer verlassen. Aber die Realität ist, dass die Armee gewonnen hat. Und das Mindeste, was sie als Gegenleistung dafür verlangen wird, ist die Amnestie für alle, die die Verschwörung gegen Ihren Bruder ins Werk gesetzt haben.« Und gegen mich, füge ich im Stillen hinzu. »Damit habe ich keine Möglichkeit mehr, meine Ansprüche gegen den Generalstab vor Gericht geltend zu machen.«
»Vielleicht, auf kurze Sicht. Aber auf lange Sicht, in einem veränderten politischen Klima, können wir vor Gericht vermutlich eine umfassende Entlastung erreichen.«
»Ich wünschte, ich hätte das gleiche Vertrauen in unser Rechtssystem wie Sie.«
Mathieu steckt die Erklärung wieder in die Tasche und steht auf. Aus seiner breitbeinigen Haltung spricht Auflehnung. »Tut mir leid, dass Sie so darüber denken,
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