Intrige (German Edition)
Antisemitismus. Verbittert schreibe ich an einen Freund: »Ich wusste, dass ich eines Tages von den Juden und insbesondere der Dreyfus-Familie aufs Korn genommen werden würde …«
Und so versinkt unsere wunderbare Sache in Trotz, Enttäuschung, Vorwürfen und Bitterkeit.
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Auf der braunen, festgestampften Erde des Exerzierplatzes der École Militaire drehen die Kadettenkompanien ihre Runden. Ich stehe wie so oft hinter dem Geländer auf der Place de Fontenoy und beobachte, wie sie ihre Schrittarten üben. Ein Großteil meines Lebens konzentriert sich auf diesen Platz. Hier wurde ich als junger Offizier ausgebildet, und hier habe ich unterrichtet. Hier wurde ich Zeuge von Dreyfus’ Degradierung. In der Halle der Reitschule hat mein Duell mit Henry stattgefunden.
»Kompanien – stillgestanden!«
»Kompanien – präsentiert das Gewehr!«
Die jungen Männer marschieren an mir vorbei, die Augen rechts, die Schrittfolge akkurat. Das Schlimmste ist, dass sie mich nicht einmal sehen. Und wenn sie mich sehen, dann falle ich ihnen nicht auf – ich bin nur ein Zivilist mittleren Alters, der einen schwarzen Anzug und eine Melone trägt und ihnen von jenseits der Absperrung wehmütig zuschaut.
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Und doch tragen wir am Ende den Sieg davon – allerdings nicht mit einem triumphalen Paukenschlag, wie wir immer gehofft hatten, nicht als Krönung eines großen Prozesses, wenn der Verurteilte am Ende doch noch entlastet und auf den Schultern hinaus in die Freiheit getragen wird. Wir erringen einen stillen Sieg, hinter verschlossenen Türen in Konferenzräumen und Archiven, nachdem die erhitzten Gemüter sich abgekühlt und penible Juristen alle Fakten unablässig immer wieder durchgesiebt haben. Erst hält Jaurès, der Anführer der Sozialisten, in der Abgeordnetenkammer eine rhetorisch brillante Rede, die eineinhalb Tage dauert und in der er die gesamte Affäre so klar schildert, dass der neue Kriegsminister, General André, sich einverstanden erklärt, das gesamte Beweismaterial noch einmal zu sichten – das geschieht im Jahr 1 9 0 3 . Das Ergebnis von Andrés Untersuchung veranlasst den Strafgerichtshof, sich des Falles anzunehmen, der eine Überprüfung durch das Oberste Berufungsgericht anordnet – das nimmt das Jahr 1 9 0 4 in Anspruch. Dann geht ein Jahr wegen des politischen Auf ruhrs über die Trennung von Kirche und Staat verloren – 1 9 0 5 adieu. Doch schließlich wird das Urteil von Rennes vom Obersten Berufungsgericht aufgehoben und Dreyfus vollständig entlastet – was am 1 2 . Juli 1 9 0 6 öffentlich verkündet wird.
Am 1 3 . Juli wird ein Gesetzesantrag in die Abgeordnetenkammer eingebracht, durch den Dreyfus im Majorsrang wieder in die Armee aufgenommen und ihm die für ihn höchstmögliche Auszeichnung verliehen werden soll, das Kreuz der Ehrenlegion. Der Antrag wird mit 432 zu 32 Stimmen angenommen, und als Mercier sich im Senat dagegen ausspricht, wird er niedergebrüllt. Am gleichen Tag wird über einen zweiten Antrag debattiert, durch den ich in dem Rang wieder in die Armee aufgenommen werden soll, den ich angestrebt hätte, wäre ich nicht 1 89 8 unehrenhaft entlassen worden. Dieser Antrag wird sogar mit der noch größeren Mehrheit von 449 zu 26 Stimmen angenommen. Als ich zu Dreyfus’ Ordensverleihung zum Exerzierplatz der École Militaire gehe, wundere ich mich immer noch, dass ich die Uniform eines Brigadegenerals trage.
Am 25 . Oktober wird mein Freund Georges Clemenceau Premierminister. Zu dieser Zeit bin ich in Wien. An jenem Abend trage ich Frack und weiße Krawatte und führe Pauline zu unserem Platz in der Wiener Staatsoper, um Gustav Mahler Tristan und Isolde dirigieren zu sehen. Seit Wochen habe ich mich darauf gefreut. Kurz bevor die Lichter gelöscht werden, bemerke ich einen Beamten der französischen Botschaft, der sich im Gang herumdrückt. Dann wandert von einer weiß behandschuhten und juwelenbehängten Hand zur nächsten ein Telegramm bis zu Pauline, die es mir gibt.
Hiermit setze ich Sie darüber in Kenntnis, dass ich Sie heute zum Kriegsminister ernannt habe. Bitte um unverzügliche Rückreise nach Paris. Clemenceau.
Epilog
Donnerstag, 2 9 . November 1 9 0 6
25
»Major Dreyfus für den Kriegsminister …«
Ich höre seine Stimme, als er sich am Fuß der Marmortreppe bei meinem Ordonanzoffizier meldet. Es ist die vertraute Stimme mit dem Hauch eines deutschen Akzents. Ich lausche dem klackenden Geräusch seiner Stiefel auf den Stufen, und dann rückt er
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