Intrige (German Edition)
Monsieur Picquart. Ich verstehe, dass Sie um Ihrer Sache willen auch den Märtyrertod meines Bruders in Kauf nehmen würden. Aber seine Familie will ihn lebend zurück. Ehrlich gesagt, kann er sich selbst nicht recht abfinden mit dieser Entscheidung. Ich glaube, es würde ihm etwas bedeuten, wenn ich ihm sagen könnte, dass er Ihre Zustimmung hat.«
» Meine Zustimmung? Warum sollte die ihn kümmern?«
»Trotzdem glaube ich, dass es ihm wichtig wäre. Was darf ich ihm ausrichten?«
Er steht unversöhnlich vor mir.
»Was sagen die anderen?«
»Zola, Clemenceau und Labori sind dagegen. Reinach, Lazare, Basch und der Rest sind mehr oder weniger begeistert dafür.«
»Sagen Sie ihm, ich sei auch dagegen.«
Als hätte er nichts anderes erwartet, nickt Mathieu knapp und wendet sich zum Gehen.
»Sagen Sie ihm auch, dass ich ihn verstehe.«
•
Dreyfus wird am Mittwoch, dem 2 0. September 1 8 9 9 , entlassen, bekannt gegeben wird die Nachricht aber erst am nächsten Tag, um ihm zu ermöglichen, Paris zu verlassen, ohne von der Öffentlichkeit belästigt zu werden. Wie jeder andere erfahre ich von seiner Freilassung aus der Zeitung. Er trägt einen dunkelblauen Anzug und einen weichen, schwarzen Hut, als er in der Abenddämmerung von Beamten der Sûreté mit einem Automobil vom Gefängnis in Rennes abgeholt und zum Bahnhof in Nantes gefahren wird, wo Mathieu auf ihn wartet und die beiden einen Nachtzug nach Süden besteigen. In einem Haus der Familie in der Provence wird er von seiner Frau und seinen Kindern erwartet. Dann reist er weiter in die Schweiz. Aus Angst vor einem Attentat kehrt er nicht nach Paris zurück.
Was mich angeht, so schlage ich mich mehr schlecht als recht durch und versuche mit Laboris Unterstützung, ver schiedene Zeitungen wegen übler Nachrede zu belangen. Obwohl man mir anbietet, mich wieder in die Armee aufzunehmen und mit einem Kommando zu betrauen, lehne ich im Dezember das Angebot einer Generalamnestie der Regierung für alle in die Affäre Verwickelten ab. Warum sollte ich wieder die gleiche Uniform anziehen wie diese Verbrecherbande um Mercier, du Paty, Gonse und Lauth?
Im Januar zieht Mercier als Nationalist für das Département Loire-Inférieure in den Senat ein.
Von Dreyfus höre ich nichts. Doch dann, über ein Jahr nach seiner Freilassung, gehe ich an einem trüben Wintertag des Jahres 1 9 00 die Treppe hinunter zu meinem Briefkasten, in dem sich ein in Paris abgestempelter Brief befindet. Die Adresse ist in einer Handschrift geschrieben, die mir nur aus Geheimakten und Beweismaterial aus dem Gerichtssaal bekannt ist.
Herr Oberstleutnant,
es ist mir eine Ehre, Sie um Festsetzung von Tag und Stunde für ein Treffen zu bitten, an dem ich Ihnen persönlich meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen kann.
Hochachtungsvoll,
A. Dreyfus
Der Absender ist eine Adresse in der Rue de Châteaudun.
Ich gehe wieder nach oben. Pauline ist über Nacht geblieben, was sie jetzt, da die Mädchen schon älter sind, ziemlich oft tut. Sie führt wieder ihren Mädchennamen Romazzotti. Die Leute halten sie für eine Witwe. Ich ziehe sie wegen des Namens auf, er höre sich an, als wäre sie eine Spiritistin vom Boulevard Saint-Germain.
»Irgendwas Wichtiges?«, ruft sie aus dem Schlafzimmer.
Ich lese den Brief noch einmal.
»Nein«, rufe ich.
Am Vormittag schreibe ich auf die Rückseite einer meiner Visitenkarten: Monsieur, ich werde Sie wissen lassen, wann wir uns treffen können. Georges Picquart.
Weiter unternehme ich nichts. Er ist die Sorte Mensch, der es unangenehm ist, sich zu bedanken. Na gut, und ich bin die Sorte Mensch, der es unangenehm ist, wenn man sich bei ihr bedankt. Also erspare ich uns das lächerliche Pathos einer solchen Begegnung. Später werfen mir die Zei tungen vor, ich hätte es rundheraus abgelehnt, mich mit Drey fus zu treffen. Anonym schreibt ein Freund der Familie – der sich später als Bernard Lazare entpuppt, ein Verfasser zionistischer Flugschriften – der rechtsgerichteten Zeitung L’Écho de Paris:
Wir verstehen Picquart und seine Haltung nicht … wahrscheinlich ist Ihren Lesern und vielen anderen nicht bewusst, dass Picquart ein rigoroser Antisemit ist.
Wie soll ich darauf reagieren? Wenn man den wahren Charakter eines Menschen nur an seinen Taten messen könne, wie Aristoteles sagt, dann kann man mich wohl kaum als einen rigorosen Antisemiten bezeichnen. Trotzdem kann man die alten Vorurteile mit nichts besser befeuern als mit dem Vorwurf des
Weitere Kostenlose Bücher