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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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ich. »General Boisdeffre macht sich Sorgen, dass das Interesse am Fall Dreyfus möglicherweise wieder aufflackern könnte.«
    »General Boisdeffre ist ein altes Weib«, sagt Sandherr, als stellte er eine wissenschaftliche Tatsache fest.
    »Er ist beunruhigt, weil es kein eindeutiges Motiv gibt.«
    »Motiv?«, brummt Sandherr. Sein auf den Kissen ruhender Kopf bewegt sich hin und her, ob aus Unglauben oder wegen seines Gesundheitszustands, kann ich nicht beurteilen. »Dieser Schwätzer! Motiv? Dreyfus ist Jude, mehr Deutscher als Franzose! Die meisten seiner Familienangehörigen leben in Deutschland! Sein gesamtes Einkommen stammt aus Deutschland. Wie viele Motive braucht der General denn noch?«
    »Trotzdem will er, dass ich die Akten füttere. Das waren seine Worte.«
    »Die Dreyfus-Akte ist dick genug. Sieben Richter haben sie gelesen und den Mann einstimmig für schuldig befunden. Wenn man Ihnen Ärger macht, wenden Sie sich an Henry.«
    Dann zieht sich Sandherr die Decke um die Schultern und dreht sich mit dem Rücken zu mir auf die Seite. Ich warte noch eine Minute. Schließlich danke ich ihm für seine Hilfe und verabschiede mich. Ich weiß nicht, ob er mich hört, jedenfalls gibt er mir keine Antwort.
    •
    Nach der Dunkelheit von Sandherrs Krankenzimmer stehe ich für einen Moment vom Tageslicht geblendet auf dem Trottoir vor seinem Haus. Die Aktentasche mit dem Geld und den Namen von Verrätern und Spionen wiegt schwer in meiner Hand. Als ich auf der Suche nach einer Droschke die Avenue du Trocadéro überquere und nach links schaue, damit ich nicht überfahren werde, nehme ich flüchtig ein elegantes Mehrfamilienhaus mit einer blauen Flügeltür wahr und daneben auf den blauen Ziegeln die Nummer sechs. Erst denke ich mir nichts dabei, doch dann bleibe ich ruckartig stehen und schaue noch einmal hin: Avenue du Trocadéro, Nr. 6 . Ich kenne die Adresse. Ich habe sie viele Male gelesen. Es ist das Haus, in dem Dreyfus zum Zeitpunkt seiner Verhaftung gelebt hat.
    Ich schaue zur Rue Léonce Reynaud zurück. Natürlich ein Zufall, aber trotzdem bemerkenswert: Dreyfus und sein Erzfeind haben so nahe beieinander gelebt, dass sie sich praktisch von ihren Haustüren aus hatten sehen können. Da sie jeden Tag zur gleichen Zeit zum Kriegsministerium und wieder zurückgegangen sind, müssen sie auf der Straße zumindest oft aneinander vorbeigelaufen sein. Ich trete an den Rand des Trottoirs, lege den Kopf in den Nacken, halte mir die Hand über die Augen und schaue mir das prachtvolle Wohnhaus genauer an. Jedes der hohen Fenster hat einen schmiedeeisernen Balkon, breit genug, darauf sitzen zu können, mit Blick über die Seine. Das Gebäude ist wesentlich feudaler als das versteckt in einer schmalen Kopfsteinpflasterstraße gelegene Haus, in dem Sandherr wohnt.
    An einem der Fenster im ersten Stock fällt mir das blasse Gesicht eines kleinen Jungen auf, der mich an einen ans Haus gefesselten Kranken erinnert. Er schaut zu mir herunter. Dann tritt ein Erwachsener zu ihm – eine junge Frau mit einem genauso weißen Gesicht, das von dunklen Locken umrahmt ist. Vielleicht seine Mutter. Sie steht hinter ihm, hat mit den Händen seine Arme umfasst, und gemein sam schauen sie mich an – einen uniformierten Oberstleutnant, der sie von der Straße aus beobachtet. Schließlich flüstert sie ihm etwas ins Ohr und zieht ihn sanft vom Fenster weg.

4
    Am nächsten Morgen schildere ich Major Henry die seltsame Erscheinung. Er runzelt die Stirn.
    »Ein Fenster im ersten Stock auf Nummer sechs? Das muss Dreyfus’ Frau gewesen sein, und sein kleiner Junge – wie heißt er noch gleich? – Pierre, genau. Sie haben noch ein Mädchen, Jeanne. Madame Dreyfus lässt die Kleinen nie aus dem Haus, damit sie nicht irgendwelche Geschichten über ihren Vater hören. Sie hat ihnen erzählt, dass er auf einem Sondereinsatz im Ausland ist.«
    »Und das glauben sie ihr?«
    »Warum nicht. Sie sind noch klein.«
    »Woher wissen Sie das alles?«
    »Wir behalten sie immer noch im Auge, keine Sorge.«
    »Wie genau?«
    »Einer der Hausangestellten ist ein Agent von uns. Wir folgen ihnen überallhin. Wir fangen ihre Post ab.«
    »Auch jetzt noch, sechs Monate, nachdem Dreyfus verurteilt worden ist?«
    »Oberst Sandherr hatte die Hypothese aufgestellt, dass Dreyfus sich als Mitglied eines Spionagerings herausstellen könnte. Er glaubte, wenn wir die Familie weiter beobachten, dann stoßen wir vielleicht auf Hinweise, die uns zu anderen Verrätern

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