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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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so sicher. Ich stelle mir vor, was mein Freund Leblois, seines Zeichens Rechtsanwalt, dazu sagen würde. »Zugegeben, es ändert nichts an Dreyfus’ Schuld. Aber wenn allgemein bekannt würde, dass er aufgrund von geheimen Beweisen verurteilt wurde, die er und sein Anwalt niemals zu Gesicht bekamen, dann würde bestimmt so mancher argumentieren, dass er keinen fairen Prozess bekommen hat.« Ich beginne zu ver stehen, warum Boisdeffre politischen Ärger wittert. »Wissen wir, wie die Familie diese Information einzusetzen gedenkt?«
    Henry schaut zu Guénée, der den Kopf schüttelt. »Erst waren sie alle ziemlich aufgeregt deshalb. Sie haben ein Familientreffen in Basel abgehalten. Aber das ist jetzt schon vier Monate her, und seitdem ist nichts passiert.«
    »Nun ja, eine Sache haben sie schon unternommen«, sagt Henry und zwinkert. »Erzählen Sie das von Madame Léonie – das wird Sie erheitern, Herr Oberstleutnant!«
    »Ach ja, Madame Léonie!« Guénée lacht und kramt in seinem Ordner. »Das ist eine Freundin von Dr. Gibert.« Er gibt mir eine zweite Fotografie, die eine etwa fünfzigjährige Frau mit einem hausbackenen Gesicht zeigt, die frontal in die Kamera blickt und eine normannische Haube trägt.
    »Wer ist diese Madame Léonie?«
    »Sie ist eine Schlafwandlerin.«
    »Ist das Ihr Ernst?«
    »Absolut! Sie fällt in einen hellseherischen Schlaf und erzählt Mathieu vermeintliche Tatsachen über den Fall seines Bruders, von denen sie behauptet, dass sie sie in der Geisterwelt erfahren hat. Er hat sie in Le Havre kennengelernt und war so beeindruckt von ihr, dass er sie mit nach Paris genommen hat. Er hat ihr ein Zimmer in seiner Wohnung gegeben.«
    »Ist das zu fassen?« Henry brüllt vor Lachen. »Sie stolpern buchstäblich im Dunkeln herum. Im Ernst, Herr Oberstleutnant, von diesen Leuten haben wir nicht das Geringste zu befürchten.«
    Ich lege die Fotografien von Mathieu Dreyfus und Madame Léonie nebeneinander auf den Tisch und spüre, wie meine Besorgnis sich langsam zerstreut. Tischklopfen, Wahr sagerei, Zwiesprache mit den Toten: Das alles ist in Paris im Augenblick groß in Mode. Manchmal möchte man an seinen Mitmenschen verzweifeln. »Sie haben recht, Henry. Das beweist, dass sie nicht weiterkommen. Auch wenn sie von dieser geheimen Beweisakte wissen, anscheinend haben sie erkannt, dass die für sich allein noch gar nichts bedeutet. Sorgen wir also dafür, dass das so bleibt.« Ich wende mich an Guénée. »Wie läuft die Observation ab?«
    »Wir sind ganz nah dran an der Familie, Herr Oberstleutnant. Madame Dreyfus’ Kindermädchen liefert uns einmal die Woche einen Bericht. Die Concierge von Mathieu Dreyfus’ Wohnhaus in der Rue de Châteaudun ist unsere Informantin. Das Mädchen seiner Frau arbeitet auch für uns. Sein Koch und dessen Verlobte behalten ihn für uns im Auge. Wohin er auch geht, wir folgen ihm. Der gesamte Briefverkehr der Familie wird von der Postbehörde umgeleitet. Wir haben von allem Abschriften.«
    »Und das ist die Korrespondenz von Dreyfus selbst.« Henry hält die Mappe hoch, die er mitgebracht hat, und gibt sie mir. »Das Kolonialministerium braucht sie morgen wieder.«
    Die Mappe ist mit einer schwarzen Schnur zusammengebunden und trägt das offizielle Siegel des Kolonialministe riums. Ich löse die Schnur und klappe den Deckel auf. Einige der Briefe sind die Originale – die, die der Zensor nicht durchgelassen hat und deshalb im Ministerium einbehalten wurden. Andere sind Kopien von Briefen, die freigegeben wurden. »Meine liebe Lucie, ich frage mich bei Gott, wie ich so weiterleben soll …« Ich lege den Brief zurück und nehme einen anderen. »Mein armer geliebter Fred, der Schmerz, den ich bei unserer Trennung empfand …« Ich bin verblüfft. Als Fred kann ich mir diese steife, ungelenke und kühle Gestalt kaum vorstellen.
    »Ab jetzt möchte ich, dass jeder Brief sofort nach seinem Eintreffen im Kolonialministerium kopiert und mir vorgelegt wird«, sage ich an Henry gewandt.
    »Ja, Herr Oberstleutnant.«
    »Und Sie, Monsieur Guénée, führen die Observation der Familie wie gehabt fort. Solange sich die Umtriebe der Familie auf die Ebene des Schlafwandelns beschränken, braucht uns das nicht zu kümmern. Sollte es jedoch darüber hinausgehen, müssen wir uns noch einmal unterhalten. Und achten Sie außerdem auf alles, was uns einen Hinweis auf ein zusätzliches Motiv für Dreyfus’ Verrat liefern könnte.«
    »Ja, Herr Oberstleutnant.«
    Damit ist die

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