Intrige (German Edition)
führen.«
»Und?«
»Noch nichts.«
Ich lehne mich auf meinem Schreibtischstuhl zurück und mustere Henry. Er hat ein sympathisches Gesicht, ist offensichtlich außer Form, aber unter der Fettschicht, würde ich schätzen, noch sehr kräftig: ein Mensch, der gern einmal in eine Bar geht, der einiges verträgt und, wenn er bei Laune ist, vermutlich gute Geschichten zu erzählen weiß. Wir sind so verschieden, wie das zwei Menschen nur sein können. »Wussten Sie, dass Oberst Sandherrs Wohnung nur hundert Meter von der von Dreyfus entfernt liegt?«, frage ich.
Hin und wieder blitzt Verschlagenheit in Henrys Augen auf. Es ist der einzige Riss in seinem jovialen Panzer. Er sagt auf beiläufige Art: »So nah? War mir noch gar nicht aufgefallen.«
»Ja. Tatsächlich könnte ich mir gut vorstellen, jetzt, da ich die Gegend gesehen habe, dass sie sich gelegentlich mal begegnet sind, und wenn auch nur zufällig auf der Straße.«
»Kann gut sein. Allerdings weiß ich, dass der Oberst ihm nach Möglichkeit aus dem Weg ging. Er mochte ihn nicht – hat seiner Ansicht nach immer zu viele Fragen gestellt.«
Darauf würde ich wetten, dass er ihn nicht mochte, denke ich. Der Jude mit der riesigen Wohnung und der Aussicht auf den Fluss … Ich stelle mir vor, wie Sandherr eines Morgens um neun Uhr mit energischen Schritten der Rue Saint-Dominique zustrebt, und der junge Hauptmann versucht, sich ihm anzuschließen und ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Wenn ich mit ihm zu tun hatte, kam mir Dreyfus immer wie jemand vor, in dessen Gehirn etwas fehlte: ein unverzichtbares soziales Werkzeug, das ihm Bescheid gegeben hätte, wann er die Menschen langweilte oder sie nicht mit ihm sprechen wollten. Er war unfähig, seine Wirkung auf an dere einzuschätzen, während Sandherr, der schon bei einem Schmetterlingspärchen, das sich zusammen auf einer Blüte niederließ, eine Verschwörung witterte, die Neugier seines jungen jüdischen Nachbarn zunehmend misstrauischer gemacht hätte …
Ich öffne die Schreibtischschublade und nehme die Medikamente heraus, die ich am Tag zuvor entdeckt habe: ein paar Dosen und zwei dunkelblaue Fläschchen. Ich zeige sie Henry. »Die hat Oberst Sandherr dagelassen.«
»Bestimmt ein Versehen. Darf ich?« Umständlich nimmt Henry mir die Medikamente ab. In seiner Unbeholfenheit lässt er eines der Fläschchen beinah fallen. »Ich werde sie ihm bringen lassen.«
»Quecksilber, Guajak-Extrakt, Kaliumjodid …« Ich kann nicht widerstehen, ihn darauf anzusprechen. »Sie wissen, was man üblicherweise damit behandelt, oder?«
»Nein. Ich bin kein Arzt …«
Ich lasse es dabei bewenden. »Ich möchte einen umfassenden Bericht über die Unternehmungen der Familie Drey fus – wen sie treffen, alles, was sie veranstalten, um dem Häftling zu helfen. Ich möchte außerdem, dass man mir Dreyfus’ gesamte Korrespondenz vorlegt, zur und von der Teufelsinsel. Ich nehme an, seine Briefe werden zensiert und es liegen Abschriften vor?«
»Selbstverständlich. Ich werde Gribelin Bescheid sagen.« Er zögert kurz. »Wenn die Frage erlaubt ist, Herr Oberstleutnant: Warum dieses Interesse an Dreyfus?«
»General Boisdeffre meint, die Sache könnte sich zu einem politischen Thema entwickeln. Er will, dass wir vorbereitet sind.«
»Verstehe. Ich werde mich gleich darum kümmern.«
Mit Sandherrs Medikamenten verlässt Major Henry mein Büro. Natürlich weiß er genau, wofür sie verschrieben werden: Wir beide haben in unserer Laufbahn genügend Männer aus nicht registrierten Bordellen geschleift, um die Standard behandlung zu kennen. Und so sinniere ich darüber nach, was es bedeutet, einen Geheimdienst von einem Mann zu übernehmen, der anscheinend an tertiärer Syphilis leidet, gemeinhin bekannt als Hirnerweichung.
•
An jenem Nachmittag schreibe ich meinen ersten Geheimdienstbericht für den Generalstab – einen Blanc, wie man das in der Rue Saint-Dominique nennt. Ich schustere ihn aus Artikeln der deutschen Zeitungen vor Ort und einem der Agentenbriefe zusammen, dessen Inhalt Sandherr mir erläutert hat: »Ein Berichterstatter meldet aus Metz, dass unter den Soldaten in der Garnison Metz seit einigen Tagen rege Aktivität feststellbar ist. In der Stadt ist alles ruhig, es herrscht keine Alarmstimmung, aber die militärische Führung hält die Soldaten immer unter Spannung …«
Als ich fertig bin, lese ich den Text noch einmal durch und frage mich: Ist das wichtig? Stimmt das überhaupt? Offen gestanden,
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