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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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nehmen. Dabei sehe ich, dass die fleckigen Wunden unter den Bartstoppeln an Kinn und Kehle in einen dunkelvioletten Streifen an der Seite seines Halses übergehen. Er setzt die Brille auf und sieht sich mit zusammengekniffenen Augen einen der Briefe an. »Setzen Sie sich. Nehmen Sie den Stuhl da. Haben Sie was zum Schreiben dabei? Sie müssen sich ein paar Dinge notieren.«
    In den nächsten beiden Stunden führt mich Sandherr ohne Verschnaufpause durch seine geheime Welt. Ein Mann arbeitet in einer Wäscherei, die die deutsche Garnison in Metz beliefert, ein anderer hat eine Stellung bei der Eisenbahn an der Ostgrenze. Sie ist die Geliebte eines deutschen Offiziers in Mülhausen, er ein Kleinkrimineller in Lothringen, der auf Bestellung in Häuser einbricht. Der ist ein Säufer, ein anderer homosexuell. Sie ist eine Patriotin, die dem Militärgouverneur den Haushalt führt und 7 0 ihren Neffen verloren hat. Diesem und jenem können Sie trauen. Den oder die ignorieren Sie einfach. Der braucht sofort dreihundert Francs, auf den können Sie ganz verzichten … Ich schreibe im Diktattempo mit, bis wir alle Briefe durchgearbeitet haben. Er diktiert mir aus dem Gedächtnis eine Reihe weiterer Agenten und ihre Decknamen und sagt, ich solle mir von Gribelin deren Adressen geben lassen. Er wird allmählich müde.
    »Möchten Sie, dass ich gehe?«, frage ich.
    »Einen Moment noch.« Er macht eine matte Handbewegung. »In der Chiffonier-Kommode da drüben sind noch ein paar Sachen für Sie.« Ich knie mich auf den Boden, öffne eine Schublade und nehme eine schwere Stahlkassette und einen großen Umschlag heraus. »Schauen Sie hinein«, sagt er. Die Kassette ist unverschlossen. Darin befindet sich ein kleines Vermögen in Goldmünzen und Banknoten: hauptsächlich französische Francs, aber auch deutsche Mark und englische Pfund. »Das müsste der Gegenwert von ungefähr achtund vierzigtausend Francs sein«, sagt er. »Wenn Ihnen das Geld ausgeht, sprechen Sie mit Boisdeffre. Monsieur Paléologue vom Außenministerium hat ebenfalls die Anweisung, für Nachschub zu sorgen. Das ist für die Agenten, Sonderzahlungen. Achten Sie darauf, dass Sie immer flüssig sind. Stecken Sie die Kassette in Ihre Aktentasche.«
    Ich verstaue die Kassette, dann öffne ich den Umschlag. Er enthält etwa hundert Blatt Papier: Namen und Adressen, in akkurater Handschrift, geordnet nach Département.
    »Die Liste muss immer auf dem Laufenden gehalten werden«, sagt Sandherr.
    »Was ist das?«
    »Mein Lebenswerk.« Er lacht trocken, muss aber sofort husten.
    Ich blättere durch die Seiten. Das müssen drei- oder viertausend Namen sein. »Wer sind all diese Leute?«
    »Mutmaßliche Verräter, die im Kriegsfall sofort zu verhaften sind. Die regionalen Polizeibehörden dürfen nur die Namen in ihrem Zuständigkeitsbereich kennen. Es gibt nur eine einzige Kopie davon, die liegt beim Minister. Und es existiert noch eine andere, längere Liste, die hat Gribelin.«
    »Länger?«
    »Sie enthält etwa hunderttausend Namen.«
    »Unglaublich!«, rufe ich aus. »Die muss ja so dick wie die Bibel sein. Was für Leute stehen da drauf?«
    »Ausländer, die bei Ausbruch von Feindseligkeiten sofort zu internieren sind. Und auf dieser Liste sind die Juden noch nicht erfasst.«
    »Sie glauben, dass man die Juden im Kriegsfall internieren sollte?«
    »Zumindest sollte man eine Meldepflicht, Ausgangssperren und Reisebeschränkungen verhängen.« Zitternd nimmt Sandherr seine Brille ab und legt sie auf den Nachttisch. Er rutscht tiefer, lässt sich in die Kissen zurücksinken und schließt die Augen. »Meine Frau steht treu zu mir, wie Sie ja gesehen haben – treuer, als es die meisten Frauen unter diesen Umständen täten. Sie hält es für eine Schande, dass man mich in den Ruhestand abgeschoben hat. Obwohl ich ihr versichere, dass ich ganz froh bin, in den Hintergrund treten zu können. Ich schaue mich in Paris um, sehe überall die Fremden, den Verfall jeder Moral und aller künstlerischen Maßstäbe und weiß, dass ich die eigene Stadt nicht mehr kenne. Deshalb haben wir 70 verloren, Frankreich ist kein unverfälschtes Land mehr.«
    Ich packe die Briefe zusammen und verstaue sie in meiner Aktentasche. Diese Art von Gerede langweilt mich: alte Män ner, die jammern, dass die Welt vor die Hunde geht. Das ist abgedroschen. Ich kann es nicht erwarten, seiner bedrückenden Ausstrahlung zu entkommen. Aber eines muss ich ihn noch fragen. »Da Sie die Juden erwähnen«, sage

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