Intrige (German Edition)
ich habe nicht die blasseste Ahnung. Ich weiß nur, dass man mindestens einen Blanc pro Woche von mir erwartet, und etwas Besseres habe ich bei meinem ersten Versuch nicht zu bieten. Ich lasse ihn über die Straße ins Büro des Stabschefs bringen und wappne mich für den Rüffel, den mir derart wertloses Gewäsch einbringen wird. Stattdessen bestätigt Boisdeffre den Empfang, dankt mir und leitet eine Abschrift des Berichts an den Oberkommandierenden der Infanterie weiter. Ich kann mir die Gespräche im Offizierskasino vorstellen: Schon von den Gerüchten gehört, dass die Deutschen in Metz irgendetwas im Schilde führen …? Und schon wird für fünfzigtausend Soldaten entlang der Grenze im Osten durch ein paar zusätzliche Tage mit Drill und Gewaltmärschen das Leben ein klein wenig elender gemacht.
Das ist meine erste Lektion hinsichtlich der kabbalistischen Macht sogenannter Geheiminformationen: Sie können sonst vernünftige Männer dazu bringen, ihren Verstand zu vergessen und wie Idioten herumzuhüpfen.
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Ein oder zwei Tage später erscheint Henry mit einem Agenten in meinem Büro, der mich über den Fall Dreyfus informieren soll. Er stellt ihn als François Guénée vor, Mitarbeiter der französischen Kriminalpolizei Sûreté. Er ist in den Vierzigern, seine gelbliche Gesichtsfarbe lässt auf reichlichen Genuss von Nikotin oder Alkohol oder beidem schließen, und er verkörpert die Sorte Polizist, deren Auftreten gleichzeitig herrisch und unterwürfig ist. Als wir uns die Hände schütteln, erkenne ich ihn wieder: Er war einer der Pfeife rauchenden und Karten spielenden Gestalten, die ich an mei nem ersten Tag einen Stock tiefer gesehen habe. Henry erklärt mir, dass Guénée die Observation der Familie Dreyfus leitet. »Ich dachte, Sie würden gern hören, wie der aktuelle Stand ist«, sagt er.
»Bitte.« Ich deute auf die Sitzgruppe in der Ecke meines Büros, und wir setzen uns. Guénée hat eine Aktenmappe dabei, ebenso Henry.
»Entsprechend Oberst Sandherrs Anweisungen habe ich mich mit meinen Nachforschungen auf den älteren Bruder des Verräters konzentriert, auf Mathieu Dreyfus«, sagt Guénée. Er nimmt eine Studioaufnahme aus seinem Ordner und schiebt sie über den Tisch. Mathieu ist attraktiv, sogar schneidig. Er erinnert eher an einen Hauptmann der Armee als sein Bruder Alfred, der wie ein Bankdirektor aussieht. Guénée fährt fort. »Das Objekt ist siebenunddreißig Jahre alt und vom Familiensitz in Mülhausen einzig zu dem Zweck nach Paris gezogen, die Kampagne zur Unterstützung seines Bruders zu organisieren.«
»Eine Kampagne?«
»Ja, Herr Oberstleutnant. Er schreibt Briefe an prominente Bürger und hat verlauten lassen, dass er bereit sei, für Informationen gutes Geld zu zahlen.«
»Sie müssen wissen, dass die Familie sehr wohlhabend ist«, wirft Henry ein. »Seine Frau ist sogar noch reicher. Ihre Familie sind die Hadamards – Diamantenhändler.«
»Und hat der Bruder schon irgendetwas erreicht?«
»Ein Arzt aus Le Havre, ein Dr. Gibert, ist ein alter Freund des Staatspräsidenten. Er hat der Familie sofort angeboten, sich bei Präsident Fauré für sie einzusetzen.«
»Und? Hat er?«
Guénée blättert in seinem Ordner. »Dr. Gibert hat den Staatspräsidenten am 2 1 . Februar im Élysée zum Frühstück getroffen. Danach ist er auf direktem Weg ins Hôtel de l’Athénée gefahren, wo Mathieu Dreyfus schon auf ihn gewartet hat – einer unserer Leute ist ihm von seiner Wohnung ins Hotel gefolgt.« Guénée liest den Bericht des Agenten vor: »Objekte saßen im Foyer, machten einen höchst erregten Eindruck. Saß am Nachbartisch und hörte, wie B. zu A. sagte: ›Genau das hat der Präsident gesagt – es handelte sich um geheime Beweise, die den Richtern übergeben wurden und für die Verurteilung ausschlaggebend waren, nicht die vor Gericht präsentierten Beweise.‹ Selbiger Punkt wurde mehrmals mit Nachdruck wiederholt … Nachdem B. gegangen war, blieb A. in seinem Sessel sitzen, offensichtlich sehr aufgewühlt. A. bezahlte Rechnung (Kopie beiliegend) und verließ das Hotel um 9 Uhr 25. «
Ich schaue Henry an. »Der Präsident hat offen gesagt, dass den Richtern geheime Beweise vorgelegt wurden?«
Henry zuckt mit den Achseln. »Die Leute reden. Eines Tages musste es ja rauskommen.«
»Ja, aber der Präsident …? Macht Ihnen das keine Sorgen?«
»Nein. Warum? Eine juristische Lappalie. Das ändert nicht das Geringste.«
Ich denke darüber nach. Ich bin mir nicht
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