Intrige (German Edition)
das ist ja wie bei Balzac.«
»Es kommt noch besser. Schließlich hat der Comte fünfhundert Francs bezahlt, um einen besonders kompromittierenden Brief zurückzubekommen, den Blanche an ihren verwitweten Liebhaber geschrieben hatte und der sich angeblich im Besitz einer geheimnisvollen Frau befand. Die Dame soll bei dem Treffen in dem Park, wo sie den Brief zurückgab, vollkommen verschleiert gewesen sein. Die Untersuchungen der Polizei haben später ergeben, dass der Erpresser der verwitwete Offizier selbst war.«
»Nein! Unglaublich! Was ist mit ihm passiert?«
»Nichts. Als ein Mann mit sehr guten Verbindungen durfte er seine Karriere fortsetzen. Er ist Oberst und immer noch im Generalstab.«
»Und Blanches Verlobter?«
»Er hat es abgelehnt, noch irgendetwas mit ihr zu tun zu haben.«
Pauline lehnt sich nachdenklich in ihrem Sitz zurück. »Sie tut mir leid.«
»Gelegentlich führt sie sich wirklich töricht auf. Aber sie ist ein herzensguter Mensch. Und auf ihre eigene Art begabt.«
»Wie heißt dieser Oberst, damit ich ihm eine Ohrfeige verpassen kann, wenn ich ihm einmal über den Weg laufen sollte?«
»Wenn du den Namen einmal gehörst hast, vergisst du ihn nie wieder – Armand du Paty de Clam. Er trägt immer ein Monokel.« Ich bin drauf und dran, die kuriose Tatsache hinzufügen, dass er auch der federführende Offizier bei der Untersuchung gegen Hauptmann Dreyfus war, lasse es dann aber. Diese Information unterliegt der Geheimhaltung, außerdem schmiegt Pauline gerade ihre Wange an meine Schulter, und mir gehen plötzlich andere Dinge im Kopf herum.
•
Mein Bett ist schmal, die Pritsche eines Soldaten. Nackt und eng umschlungen, um nicht auf den Boden zu fallen, liegen wir in der warmen Nachtluft. Es ist drei Uhr morgens. Pauline atmet langsam und regelmäßig in ihrem tiefen, weichen Schlaf. Ich bin hellwach, schaue über ihre Schulter zum offenen Fenster und versuche mir vorzustellen, wir wären verheiratet. Wenn wir es wären, würden wir dann jemals so eine Nacht zusammen verbringen? Ist es das Bewusstsein um ihre Vergänglichkeit, die solchen Momenten den unvergleichlichen Reiz verleiht? Außerdem graut mir vor ständiger Gesellschaft.
Ich ziehe vorsichtig meinen Arm unter ihrem Körper hervor, taste mit den Füßen nach dem Teppich und stehe auf.
Der Nachthimmel wirft genug Licht ins Wohnzimmer, dass ich mich zurechtfinde. Ich ziehe meinen Morgenrock über und zünde die Gaslampe auf dem Sekretär an. Ich schließe die Schublade auf, hole die Aktenmappe mit Drey fus’ Korrespondenz heraus, und während meine Geliebte schläft, nehme ich meine Lektüre an der Stelle wieder auf, wo ich sie unterbrochen habe.
5
Die Geschichte der vier Monate nach der Degradierung ist in der Akte leicht nachzuverfolgen, da diese von einem Bürokraten in streng chronologischer Reihenfolge dokumentiert wurde. Zwölf Tage nach der Degradierung holte man Dreyfus mitten in der Nacht aus seiner Pariser Zelle, sperrte ihn am Gare d’Orléans in einen Gefängniswaggon und schickte ihn auf eine zehnstündige Reise durch das verschneite Land zur Atlantikküste. Im Bahnhof von La Rochelle wurde er von einer Menschenmenge erwartet, die den ganzen Nachmittag mit Fäusten gegen die Seitenwände des Waggons hämmerte und Drohungen und Beleidigungen brüllte. »Tod dem Juden! Judas! Tod dem Verräter!« Erst bei Sonnenuntergang wagten es die Wachen, Dreyfus aus dem Zug zu holen. Es ist für ihn ein Spießrutenlauf geworden.
G EFÄNGNIS Î LE DE R É
2 1. J ANUAR 1 8 9 5
Meine geliebte Lucie,
gestern in La Rochelle, als man mich mit Beleidigungen überschüttete, wollte ich mich von meinen Bewachern losreißen und meine nackte Brust denen darbieten, denen ich als billiges Ziel ihrer Empörung diente. Ich wollte ihnen zurufen: »Warum beleidigt ihr mich? Ihr könnt meine Seele nicht kennen, sie ist frei von allem Makel. Aber wenn ihr dennoch glaubt, dass ich schuldig bin, kommt, nehmt meinen Leib, ich gebe ihn euch ohne jedes Bedauern.« Und wenn ich dann, unter den brennenden Qualen physischer Schmerzen, gerufen hätte: »Es lebe Frankreich!«, vielleicht hätten sie mir dann geglaubt, dass ich unschuldig bin!
Aber worum bitte ich denn bei Tag und bei Nacht? Um Gerechtigkeit! Gerechtigkeit! Leben wir denn nicht im neunzehnten Jahrhundert? Oder hat sich das Rad der Zeit um hundert Jahre zurückgedreht? Ist es möglich, dass in einem Zeitalter der Aufklärung und Wahrheit die Unschuld unerkannt bleibt? Lasst sie
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