Intrige (German Edition)
geschlossenen Fenstern gesperrt wurde, die er einen Monat lang nicht verlassen durfte, während die alte Leprakolonie auf der Teufelsinsel abgerissen und seine neue Unterkunft vorbereitet wurde.
Meine Liebe,
nach dreißig Tagen strenger Haft brachten sie mich schließ lich auf die Teufelsinsel. Tagsüber darf ich auf einer Fläche von wenigen Hundert Metern im Quadrat umhergehen, wobei mir bei jedem Schritt Wärter mit Gewehren fol gen. Bei Sonnenuntergang (um sechs Uhr) werde ich in meine vier mal vier Meter große, mit einem Eisengitter verschlossene Hütte gesperrt, vor der abwechselnd Wärter die ganze Nacht Wache halten. Meine Essensration besteht aus einem halben Laib Brot pro Tag, dreimal die Woche einem drittel Kilo Fleisch und an den restlichen Tagen Dosenspeck. Zu trinken bekomme ich Wasser. Ich muss Holz sammeln, Feuer machen und mein Essen selbst kochen, ich muss meine Wäsche selbst waschen und versuchen, sie in diesem feuchten Klima zu trocknen.
Es ist mir unmöglich, Schlaf zu finden. Der Käfig, vor dem in meinen Träumen der Wächter wie ein Phantom auf und ab geht, die peinigende Heimsuchung des Ungeziefers und die Qualen meines Herzens, all das macht es mir unmöglich, Schlaf zu finden.
Heute Morgen stürzte der Regen wie eine Sintflut herab. Wenn er einmal aufhörte, drehte ich eine Runde auf dem kleinen Teil der winzigen Insel, die für mich reserviert ist. Die Insel ist ein ausgedörrter Flecken. Ein paar Bananenstauden und Kokospalmen, sonst trockene Erde, aus der überall Basaltfelsen ragen. Und dann der ruhelose, zu meinen Füßen unablässig donnernde und flüsternde Ozean!
Ich denke viel an Dich, meine geliebte Frau, und an unsere Kinder. Ich frage mich, ob meine Briefe Dich erreichen. Was für ein trauriges und schreckliches Martyrium ist das für uns beide, für uns alle! Den Wärtern ist es verboten, mit mir zu sprechen. Die Tage gehen vorüber ohne ein einziges Wort. Meine Abschottung ist so vollkommen, dass es mir oft vorkommt, als wäre ich lebendig begraben.
Die Bedingungen, unter denen es Lucie erlaubt ist zu schreiben, sind streng. Es ist ihr verboten, den Fall oder irgendein damit in Zusammenhang stehendes Ereignis zu erwähnen. Sie hat die Anweisung, alle Briefe bis zum 25 . jedes Monats im Kolonialministerium einzureichen. Dort werden sie sorg fältig abgeschrieben und von den zuständigen Beamten im Kolonial- wie im Kriegsministerium gelesen. Abschriften werden auch an Major Étienne Bazeries weitergeleitet, den Chef der Verschlüsselungsabteilung im Außenministerium, der die Briefe auf verschlüsselte Botschaften überprüft. (Ma jor Bazeries überwacht auch Dreyfus’ Briefe an Lucie.) Ich erfahre aus der Akte, dass das erste Bündel Briefe Cayenne Ende März erreichte, aber nach Paris zur nochmaligen Überprüfung zurückgeschickt wurde. Erst am 1 2 . Juni, nach viermonatigem Schweigen, erreichten Dreyfus schließlich die ersten Nachrichten aus der Heimat.
Mein geliebter Fred,
ich habe keine Worte für meine Trauer und meinen Kum mer, während Du Dich immer weiter von mir entfernst. Meine Tage sind erfüllt von Gedanken voller Angst, meine Nächte quälen fürchterliche Träume. Nur die Kinder mit ihrer bezaubernden Art und der reinen Unschuld ihrer Herzen erinnern mich immer wieder an die zwingende Pflicht, die ich zu erfüllen habe, und dass ich kein Recht habe, schwach zu werden. Dann nehme ich meine Kraft zusammen und arbeite mit ganzem Herzen daran, sie so aufzuziehen, wie Du es Dir immer gewünscht hast, nach Deinen guten Ratschlägen und nach Kräften bestrebt, ihnen eine edle Gesinnung mitzugeben, damit Du sie bei Deiner Rückkehr als die Kinder vorfindest, die Deiner würdig sind und wie Du sie geformt haben würdest.
Mit immerwährender Liebe, mein liebster Mann,
Deine ergebene
Lucie.
Hier endet die Akte. Ich lege das letzte Blatt zur Seite und zünde mir eine Zigarette an. Der neue Tag ist angebrochen. Ich war so gefesselt, dass ich es nicht bemerkt habe. Hinter mir im Schlafzimmer kann ich Paulines Schritte hören. Ich gehe in die winzige Küche, um Kaffee zu machen, und als ich mit zwei Tassen in der Hand wieder ins Wohnzimmer zurückkehre, ist sie schon angezogen und sucht nach etwas.
»Nein danke«, sagt sie zerstreut, als sie den Kaffee sieht. »Ich muss sofort los. Aber ich kann einfach den Strumpf nicht finden … Ah, da!«
Sie bückt sich und hebt ihn auf. Sie stützt die Ferse auf einer Stuhlkante ab, rollt den weißen Seidenstoff über
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