Intrige (German Edition)
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Widerwillig breche ich hier ab. Ich verschließe die Mappe im Sekretär, rasiere mich, ziehe eine saubere Galauniform an und mache mich auf den Weg zum Haus zweier Freunde, Comte und Comtesse de Comminges.
Ich kenne Aimery de Comminges, Baron de Saint-Lary, seit wir vor über zehn Jahren gemeinsam in Tonkin stationiert waren. Ich war ein junger, kleiner Offizier und er ein noch jüngerer und kleinerer Leutnant. Zwei Jahre lang kämpften wir im Delta des Roten Flusses gegen die Vietnamesen und trieben uns in der Gegend von Saigon und Hanoi herum. Nach unserer Rückkehr nach Frankreich vertiefte sich unsere Freundschaft. Er stellte mich seinen Eltern und seinen jüngeren Schwestern Daisy, Blanche und Isabelle vor. Alle drei musikalische, ledige und temperamentvolle junge Frauen. Nach und nach entwickelte sich ein Salon, der aus den drei Schwestern, ihren Freunden und denen von Aimerys Armeekameraden bestand, die Interesse an Musik hatten oder zumindest so taten.
Sechs Jahre besteht der Salon nun, und es ist eine von diesen musikalischen Soireen, zu der ich heute Abend geladen bin. Wie üblich gehe ich zu Fuß und nehme keine Droschke, aus Sparsamkeit und um in Form zu bleiben. Ich gehe schnell, weil ich spät dran bin. Das uralte, riesige Stadtpalais der Familie de Comminges befindet sich auf dem Boulevard Saint-Germain. Schon von Weitem kann ich die Kutschen und Droschken sehen, die die Gäste absetzen. Im Haus begrüßt mich Aimery mit einem freundlichen Händedruck, bei dem er mit beiden Händen meine Hand umfasst. Er ist inzwischen Hauptmann und gehört zum Stab des Kriegsministers. Dann küsse ich seine Frau Mathilde, deren Familie Waldner von Freundstein zu den ältesten im Elsass gehört. Seit dem Tod des Comte vor einem Jahr ist Mathilde die Hausherrin.
»Geh schon hoch, wir fangen in ein paar Minuten an«, flüstert sie und legt mir die Hand auf den Arm. Ihr Stil als charmante Gastgeberin – kein schlechter übrigens – ist der, selbst die banalste Bemerkung wie ein intimes Geheimnis klingen zu lassen. »Mein lieber Georges, du bleibst doch zum Essen, oder?«
»Sehr gern, danke.« Eigentlich hatte ich gehofft, so früh wie möglich wieder gehen zu können, aber ich füge mich ohne Widerspruch. Junggesellen um die vierzig sind die herrenlosen Katzen der Gesellschaft. Man nimmt uns in den Haushalt auf, füttert und verhätschelt uns, und als Gegenleistung haben wir für Amüsement zu sorgen, hin und wieder mit Anstand die eine oder andere zudringliche Vertraulichkeit über uns ergehen zu lassen – wann, mein lieber Georges, wollen Sie denn nun heiraten? – und immer bereitzustehen, egal wie kurzfristig, wenn bei einer Tischgesellschaft noch ein männlicher Gast benötigt wird.
Als ich ins Haus gehe, ruft mir Aimery hinterher: »Blanche sucht dich!« Fast im gleichen Augenblick sehe ich seine Schwester, die sich durch die Halle voller Menschen auf mich zuschlängelt. Ihr Kleid und der dazu passende Kopfschmuck ziert eine große Anzahl dunkelgrün, purpurn und golden gefärbter Federn.
Sie küsst mich. »Blanche, du siehst aus wie ein besonders köstlicher Fasan«, sage ich zu ihr.
»Ich hoffe, du bist heute Abend ein guter und kein grau samer Gott, weil ich nämlich eine nette kleine Überraschung für dich habe.« Sie klingt aufgekratzt. Dann nimmt sie meinen Arm und führt mich in Richtung Garten, weg von allen anderen Menschen.
Ich leiste symbolischen Widerstand. »Ich glaube, Mathilde möchte, dass wir alle nach oben gehen …«
»Sei nicht albern! Es ist noch nicht mal sieben.« Sie senkt die Stimme. »Was ist das, etwas Deutsches, oder was?«
Sie geleitet mich zu der Glastür, die auf einen winzigen Gartenstreifen hinausführt. Er ist von den Nachbarn durch eine hohe Mauer abgetrennt, an der unangezündete Lampions hängen. Kellner sammeln abgestellte Orangeade- und Likörgläser ein. Die Gäste sind schon alle nach oben gegangen. Bis auf eine Frau, die mir den Rücken zuwendet. Sie dreht sich um, und vor mir steht Pauline. Sie lächelt.
»Voilà«, sagt Blanche mit seltsam beziehungsvoller Stimme. »Die Überraschung.«
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Blanche ist immer für das Programm des Konzerts verantwortlich. Heute Abend stellt sie ihre neueste Entdeckung vor, ein erst achtzehnjähriges katalanisches Wunderkind, Monsieur Casals, den sie als zweiten Cellisten im Orchester des Théâtre Marigny gesehen hat. Er beginnt mit einer Cello-Sonate von Saint-Saëns, und schon mit den Eröffnungsakkorden wird
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