Intrige (German Edition)
ausharren müssen? Was ist unsere Strategie? Wie viele Arbeitsstunden von Beamten – meine eingeschlossen – werden da durch die maßlose Verwaltung, Überwachung und Zensur gebunden, die diese Strafe erfordert?
Ich behalte diese Gedanken während der folgenden Wochen und Monate für mich. Weiterhin erhalte ich Guénées unergiebige Berichte über die Beobachtung von Lucie und Mathieu Dreyfus. Ich lese ihre Briefe an den Gefangenen (»Mein teurer, geliebter Mann, endlos und voller Schmerz ziehen sich die Stunden und Tage dahin, seit uns diese verheerende Katastrophe ereilt hat …«) und seine Antworten, von denen die meisten nicht weitergeleitet werden (»Nichts ist so niederdrückend, nichts erschöpft die Energie von Herz und Geist so sehr wie diese langen, qualvollen Zeiten des Schweigens, in denen ich nie ein menschliches Wort zu hören, nie ein freundliches Gesicht zu sehen bekomme oder auch nur einen Menschen, der Mitgefühl zeigt …«) Ich erhalte ebenso in Abschrift die regelmäßigen Depeschen der Beamten des Kolonialministeriums in Cayenne, die die Gesundheit und Moral des Gefangenen protokollieren:
Der Gefangene wurde gefragt, wie es ihm gehe. »Im Augenblick gut«, antwortete er. »Es ist mein Herz, das krank ist. Nichts …« Und dann brach er zusammen und weinte eine Viertelstunde lang. (2. Juli 1 8 9 5)
Der Gefangene sagte: » Vor meiner Abreise aus Frankreich hat Oberst du Paty de Clam mir versprochen, weitere Nachforschungen in meinem Fall anzustellen. Ich hätte nicht gedacht, dass diese so viel Zeit in Anspruch nehmen würden. Ich hoffe, dass sie bald in die entscheidende Phase treten.« ( 1 5. August 1 8 9 5)
Da keine Briefe von seiner Familie eintrafen, brach der Gefangene in Tränen aus und sagte: »Seit zehn Monaten leide ich nun schon unter diesen Gräueln.« ( 3 1. August 1 8 9 5)
Der Gefangene fing plötzlich krampfartig an zu schluchzen und sagte: »Es kann nicht mehr lange dauern. Ich werde an gebrochenem Herzen sterben.« Wenn Briefe für ihn eintreffen, bricht der Gefangene immer in Tränen aus. (2. September 1 8 9 5)
Heute saß der Gefangene stundenlang auf einem Fleck, ohne sich zu rühren. Am Abend klagte er über heftige Herzkrämpfe mit häufigen Erstickungsanfällen. Er verlangte nach Medikamenten, um seinem Leben ein Ende setzen zu können, falls er dieses nicht länger ertragen könne. ( 1 3. Dezember 1 8 9 5)
Im Lauf des Winters begreife ich nach und nach, dass wir bezüglich Dreyfus tatsächlich eine Strategie haben, nur dass man mir diese nicht ausdrücklich mitgeteilt hat, weder in mündlicher noch in schriftlicher Form. Wir warten auf seinen Tod.
6
Am 5 . Januar 1 8 9 6 kommt und geht der erste Jahrestag von Dreyfus’ Degradierung, ohne dass die Presse groß Notiz davon nimmt. Keine Leserbriefe oder Petitionen, keine De monstrationen dafür oder dagegen. Anscheinend hat man ihn auf seinem Felsen vergessen. Der Frühling kommt, ich leite die Statistik-Abteilung seit nunmehr acht Monaten, und alles ist ruhig.
Und dann, an einem Morgen im März, betritt Major Henry mit rosaroten, geschwollenen Augen mein Büro.
»Mein lieber Henry«, sage ich und lege die Akte, in der ich gerade gelesen habe, zur Seite. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Was ist los?«
Er steht vor meinem Schreibtisch. »Ich möchte Sie bitten, mir ein paar Tage freizugeben, Herr Oberstleutnant. Ein Notfall in der Familie.«
Ich sage, dass er die Tür schließen und sich setzen solle. »Kann ich irgendetwas für Sie tun?«
»Da ist leider nicht mehr viel zu tun, Herr Oberstleut nant.« Er schnäuzt sich mit einem großen, weißen Taschentuch die Nase. »Meine Mutter liegt im Sterben.«
»Es tut mir sehr leid, das zu hören, Herr Major. Ist jemand bei ihr? Wo lebt sie?«
»Im Département Marne. In einem kleinen Dorf. Pogny.«
»Fahren Sie sofort zu ihr, und nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen. Sagen Sie Lauth oder Junck Bescheid, einer von beiden soll Ihre Arbeit übernehmen. Das ist ein Befehl. Schließlich hat jeder nur eine Mutter.«
»Sehr freundlich von Ihnen, Herr Oberstleutnant.« Er steht auf und salutiert. Wir schütteln uns herzlich die Hand. Ich bitte ihn, seiner Mutter Grüße von mir auszurichten. Nachdem er gegangen ist, frage ich mich kurz, was für eine Frau sie wohl ist, die Ehefrau eines Schweinezüchters im Flachland von Marne und Mutter eines lautstarken Soldatensohns. Kann kein leichtes Leben gewesen sein, stelle ich mir vor.
Eine Woche lang sehe ich meinen
Weitere Kostenlose Bücher