Intrige (German Edition)
Raum für die Adresse steht unter dem Wort Telegramm und über dem Wort Paris, beide in Druckbuchstaben, handschriftlich geschrieben:
Major Esterházy,
27, Rue de la Bienfaisance
Der Name sagt mir nichts, aber ich bin so erschüttert, als hätte ich gerade in den Todesanzeigen den Namen eines alten Freundes entdeckt. »Gehen Sie zu Gribelin, er soll nachprüfen, ob es in der französischen Armee einen Major Esterházy gibt«, sage ich zu Lauth. Immerhin, denke ich, besteht die Möglichkeit, die wenn auch geringe Hoffnung, dass es sich angesichts des Nachnamens um einen österreichisch-ungarischen Offizier handelt.
»Schon erledigt«, sagt Lauth. »Major Charles Ferdinand Walsin-Esterházy dient im 74 . Infanterieregiment.«
»Im Vierundsiebzigsten?« Ich versuche immer noch, das zu verdauen. »Ich habe einen Freund in dem Regiment. Die sind in Rouen stationiert.«
»Rouen? Das Haus in R.?« Lauth schaut mich erschrocken an. Seine blassblauen Augen sind weit aufgerissen, und seine Stimme ist nur noch ein Flüstern. Das lässt nur einen einzigen Schluss zu. »Heißt das, es gibt noch einen anderen Verräter?«
Ich weiß nicht, was ich ihm darauf antworten soll. Ich lese mir noch einmal die sieben Zeilen der Nachricht durch. Nach acht Monaten, in denen ich regelmäßig Schwartzkoppens Notizen und Briefentwürfe gelesen habe, bin ich mit seiner Handschrift vertraut, und diese gleichmäßige und förmliche Schrift passt gar nicht zu ihm. Tatsächlich ist sie zu gleichmäßig und förmlich, als dass sie die normale Handschrift von wem auch immer sein könnte. Es ist die Art von Schrift, wie sie auf offiziellen Einladungen verwendet wird. Die Handschrift ist verstellt. Und deshalb meine natürliche Schlussfolgerung: Wenn ein Offizier einer fremden Macht mit einem Agenten per öffentlicher Post des Gastlandes kommuniziert, dann würde er zumindest die minimale Vorsichtsmaßnahme ergreifen und seine Handschrift verstellen. Der Ton der Botschaft ist gereizt, kategorisch, drängend und lässt auf ein gestörtes Verhältnis schließen. Das Rohrpostsystem folgt der Pariser Kanalisation und kann ein Telegramm so schnell transportieren, dass Esterházy es binnen ein, zwei Stunden erhalten hätte. Aber es ist immer noch riskant, weshalb Schwartzkoppen sich vielleicht am Ende entschieden hat, es nicht abzuschicken, sondern es in möglichst winzige Schnipsel zu zerreißen und in den Papierkorb zu werfen – obwohl er die Botschaft mühsam abgeschrieben und schon die fünfzig Centimes für die Telegrammkarte ausgegeben hatte.
»Das ist offensichtlich wichtig«, sage ich zu Lauth. »Aber wenn er es nicht abgeschickt hat, was hat er dann ge schickt?«
»Vielleicht eine andere Telegrammkarte?«, sagt Lauth. »Oder einen Brief?«
»Haben Sie schon das andere Material durchgeschaut?«
»Noch nicht. Ich habe mich erst einmal auf dies hier konzentriert.«
»Na schön. Dann überprüfen Sie jetzt den Rest, vielleicht finden Sie ja noch den Entwurf einer anderen Nachricht.«
»Und was sollen wir mit dem Rohrposttelegramm hier machen?«
»Lassen Sie es hier. Und kein Wort zu irgendwem. Ist das klar?«
»Ja, Herr Oberstleutnant.« Lauth salutiert.
Er hat die Tür schon fast wieder hinter sich geschlossen, als ich ihm hinterherrufe: »Ach, übrigens, gute Arbeit.«
•
Nachdem Lauth gegangen ist, gehe ich zum Fenster und schaue durch den Garten auf den Amtssitz des Ministers. Ich sehe, dass in seinem Büro Licht brennt. Es wäre ein Leichtes, hinüberzugehen und ihm zu berichten, was wir entdeckt haben. Zumindest könnte ich General Gonse einen Besuch abstatten, der ja eigentlich mein direkter Vorgesetzter ist. Aber mir ist klar, dass ich damit die Ermittlungen aus der Hand gebe, bevor sie überhaupt begonnen haben: Keinen Schritt würde ich unternehmen können, ohne ihn vorher mit ihnen abgesprochen zu haben. Und dann ist da noch die Gefahr, dass etwas durchsickert. Unser Verdächtiger mag ein einfacher Major bei einem unbedeutenden Regiment in einer Garnisonsstadt sein, aber Esterházy ist ein schillernder Name in Mitteleuropa. Gut möglich, dass jemand aus dem Generalstab sich bemüßigt fühlt, die Familie zu warnen. Ich beschließe, dass es schlauer ist, mir vorerst nicht in die Karten schauen zu lassen.
Ich lege das Petit Bleu wieder in die Aktenmappe und verschließe es in meinem Tresor.
Am nächsten Tag kommt Lauth wieder. Er hat bis spät in die Nacht gearbeitet und den Entwurf für einen anderen Brief zusammengesetzt.
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