Intrige (German Edition)
Stellvertreter nicht mehr. Dann, an einem Spätnachmittag, klopft es an meiner Tür und Henry tritt mit einer dicken, braunen Papiertüte ein, der auf eine Lieferung von Agent Auguste schließen lässt. »Tut mir leid, dass ich Sie stören muss, Herr Oberstleutnant. Ich bin in Eile, mein Zug geht gleich. Ich wollte nur das hier abgeben.«
Am Gewicht erkenne ich sofort, dass es sich diesmal um eine größere Lieferung als sonst handelt. Henry bemerkt meine Überraschung. »Leider habe ich wegen meiner Mutter das letzte Treffen verpasst«, sagt er kleinlaut. »Deshalb hatte ich mit Auguste für heute ein Treffen ausgemacht, ausnahmsweise bei Tage. Ich komme gerade von ihr. Ich muss jetzt zurück nach Pogny.«
Ich bin drauf und dran, ihm eine Rüge zu erteilen. Ich habe ihm befohlen, seine Aufgaben an Lauth oder Junck zu delegieren. Um unsere Agentin nicht dem Risiko auszusetzen, gesehen zu werden, hätte man bestimmt auch jemand andres zur üblichen Übergabe während der dunklen Tageszeit schicken können. Besagt außerdem nicht eine goldene Regel des Geheimdienstgeschäfts, dass sich eine Nachricht in den meisten Fällen als desto wertvoller erweist, je schneller sie bearbeitet wird? Er selbst hat das mir gegenüber oft genug betont. Aber Henry sieht mitgenommen aus, als hätte er die ganze Woche kaum geschlafen, und so verkneife ich mir einen Kommentar. Ich wünsche ihm einfach Bon Voyage und verstaue die Tüte bis zu Hauptmann Lauths Ankunft am nächsten Morgen im Tresor.
Meine Beziehung zu Lauth ist seit dem ersten Tag unserer Zusammenarbeit unverändert: professionell, aber kühl. Er ist ein paar Jahre jünger als ich, ziemlich intelligent, ein Elsässer, der deutsch spricht. Wir sollten eigentlich besser miteinander auskommen. Aber das Preußische an seinem blonden guten Aussehen und seiner stramm aufrechten Gestalt hindert mich daran, mit ihm warm zu werden. Allerdings ist er ein effizienter Offizier, und die Geschwindigkeit, mit der er die zerrissenen Schriftstücke wieder zusammensetzt, ist phänomenal. Also bin ich so höflich wie immer, als ich ihm die Tüte in sein Büro bringe. »Könnten Sie sich das bitte mal anschauen?«
»Natürlich, Herr Oberstleutnant.«
Während ich die Tüte auf seinem Schreibtisch ausleere, bindet er sich seine Schürze um und holt den Kasten mit den Werkzeugen aus dem Schrank. In dem weißgrauen Haufen stechen mir sofort Dutzende von blassblauen Schnipseln ins Auge, wie Himmelsfetzen an einem bewölkten Tag. Ich stupse mit dem Zeigefinger ein paar davon an. Sie sind etwas dicker als normales Papier. Lauth pickt mit der Pinzette einen davon heraus und begutachtet ihn, dreht ihn im hellen Lichtstrahl seiner elektrischen Lampe hin und her.
»Ein Petit Bleu«, murmelt er. Das ist der gängige Ausdruck für ein Rohrposttelegramm. Er schaut mich an und runzelt die Stirn. »Die Einzelteile sind in kleinere Stücke zerrissen als sonst.«
»Holen Sie raus, was Sie können.«
Etwa vier, fünf Stunden später kommt Lauth in mein Büro. Er hat eine dünne Aktenmappe unter dem Arm. Er windet sich betrübt, als er sie mir übergibt. Aus seinem ganzen Verhalten spricht Besorgnis, Unruhe. »Ich glaube, das sollten Sie sich ansehen, Herr Oberstleutnant«, sagt er.
Ich öffne die Mappe. Sie enthält das Petit Bleu. Er hat es gekonnt wieder zusammengesetzt. Die Struktur erinnert mich an etwas, was ein Archäologe rekonstruiert hat: an die Scherbe eines Glasgeschirrs oder einer blauen Marmorfliese. An der rechten Seite, wo ein paar Teile fehlen, sieht es gezackt aus, und die Linien der Risse verleihen ihm ein äderiges Aussehen. Aber die Nachricht auf französisch ist unmissverständlich:
Monsieur,
vor allem erwarte ich von Ihnen eine ausführlichere Erklärung der in Rede stehenden Angelegenheit als die, die Sie mir neulich gegeben haben. Ich bitte Sie, mir diese schriftlich zukommen zu lassen, sodass ich eine Entscheidung treffen kann, ob ich meine Verbindung zum Haus in R. aufrechterhalten soll oder nicht. C.
Verwirrt schaue ich Lauth an. Angesichts seines Verhaltens, als er mein Büro betreten hat, hatte ich etwas Spektakuläres erwartet. Das hier scheint seine Erregung nicht zu rechtfertigen. »C steht für Schwartzkoppen?«
Er nickt. »Ja. Sein bevorzugter Deckname. Drehen Sie es um.«
Auf der Rückseite wird das Netzwerk aus schmalen durch sichtigen Klebestreifen sichtbar, das die Telegrammkarte zusammenhält. Aber auch hier ist die Schrift problemlos zu lesen. In dem freien
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