Intrige (German Edition)
anhaftet. Immer wieder schaue ich auf meine Uhr: zehn vor neun, punkt neun, fünf nach neun, zwanzig nach neun … Vielleicht kommt sie gar nicht. Ich höre schon jetzt Henrys mitleidige Höflichkeiten, wenn ich ihm morgen erzählen werde, dass sie nicht aufgetaucht sei.
Doch dann, kurz vor halb zehn, unterbricht ein knarzendes Geräusch die Stille: Hinter mir wird die Tür geöffnet. Eine untersetzte weibliche Gestalt, die einen schwarzen Rock und ein schwarzes Kopftuch trägt, geht an mir vorbei. Nachdem sie die Hälfte des Gangs hinuntermarschiert ist, bleibt sie stehen, bekreuzigt sich, macht einen Knicks zum Altar und steuert dann den bewussten Sitzplatz an. Ich sehe, wie sie sich hinkniet. Keine Minute später steht sie wieder auf und kommt durch den Gang zurück geradewegs auf mich zu. Ich starre sie an, bin neugierig, wie sie aussieht, diese Madame Bastian, die eine gewöhnliche Putzfrau und dennoch vielleicht die wertvollste Geheimagentin in Frankreich, in ganz Europa ist. Als sie an mir vorbeigeht, schaut sie mich lange und durchdringend an – überrascht, wie ich annehme, statt Major Henry mich hier zu sehen. Mir fällt auf, dass an ihren harten, fast maskulinen Zügen und ihrem herausfordernden Blick durchaus nichts Gewöhnliches ist. Sie sieht unerschrocken aus, ja fast draufgängerisch. Ande rerseits muss man das wohl sein, wenn man unter den Augen von Wachmännern seit fünf Jahren geheime Dokumente aus der deutschen Botschaft schmuggelt.
Sobald sie die Kirche verlassen hat, stehe ich auf und gehe zu dem Platz, wo ich das Geld hinterlegt habe. Henry hat mir eingeschärft, keine Zeit zu verschwenden. Unter dem Stuhl liegt eine dreieckige Papiertüte. Sie raschelt be ängstigend laut, als ich sie in meine Aktentasche stopfe. Ich verlasse hastig die Basilika, gehe die Eingangsstufen hinunter und dann mit schnellen Schritten durch die dunklen und leeren Straßen zum Ministerium. Ich bin noch ganz euphorisch über meinen Erfolg, als ich, zehn Minuten nachdem ich die Tüte an mich genommen habe, den Inhalt auf den Schreibtisch in meinem Büro kippe.
Es ist mehr, als ich erwartet habe, Abfall im Überfluss – zerrissenes, zerknülltes und mit Zigarettenasche bestäubtes Papier, weißes und graues, cremefarbenes und blaues Papier, weiche Papierservietten und steifer Karton, winzige Schnipsel und große Fetzen Papier, handgeschrieben mit Blei stift und Tinte, getippt und gedruckt, auf französisch, deutsch und italienisch, Bahn- und Theaterkarten, Umschläge, Ein ladungen, Restaurantrechnungen und Quittungen von Schnei d ern, Droschkenkutschern, Schuhmachern … Ich fasse mit den Händen in den Berg, hebe einen Haufen in die Höhe und lasse ihn durch die Finger rieseln – das meiste ist Plunder, sicherlich, aber irgendwo dazwischen könnte sich doch Gold verstecken. Ich spüre den Kitzel des Schürfers. Die Arbeit macht mir langsam Spaß.
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Ich schreibe zweimal an Pauline, allerdings für den Fall, dass Philippe ihre Briefe öffnet, sehr zurückhaltend. Sie antwortet nicht, und ich versuche auch nicht, dem auf den Grund zu gehen, hauptsächlich weil ich keine Zeit habe. Die Samstagabende und die Sonntage gehören meiner Mutter, deren Erinnerungsvermögen weiter nachlässt, und an den meisten anderen Abenden muss ich lange im Büro bleiben. Es gibt viele Dinge, die ich im Auge behalten muss. Die Deutschen verlegen Telefonleitungen entlang unserer Grenze im Osten. In unserer Botschaft in Moskau soll es einen Spion geben. Ein englischer Agent versucht angeblich, unsere Mobilmachungspläne an den höchsten Bieter zu verkaufen … Ich muss meine regelmäßigen Blancs abliefern. Ich bin voll und ganz eingespannt.
Ich gehe weiterhin in den Salon der de Comminges, aber meine bezaubernde Madame Monnier, wie Blanche sie gern nennt, ist nie da, obwohl Blanche mir versichert, dass sie sie jedes Mal einlädt. Einmal lade ich Blanche nach einem Konzert zum Essen ein, ins Tour d’Argent, wo man uns einen Tisch mit Blick auf den Fluss gibt. Warum suche ich gerade dieses Restaurant aus? Zum einen ist es ein angenehmer Spaziergang vom Haus der de Comminges, zum anderen bin ich neugierig auf den Ort, wohin Oberstleutnant von Schwartzkoppen seine Geliebte ausführt. Ich schaue mich im Gastraum um. An den Tischen sitzen fast ausschließlich Paare. Die kerzenbeleuchteten Nischen sind wie geschaffen für ein intimes Rendezvous – je suis à toi, toujours à toi, toute à toi … Der letzte Bericht des Polizeiagenten
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