Intrige (German Edition)
beschreibt Hermance mit den Worten: »Anfang dreißig, blond, klein, cremefarbenes Kostüm mit schwarzem Saum … Manchmal befanden sich die Hände von beiden nicht auf dem Tisch.«
»Warum lächelst du?«, fragt Blanche.
»Ich kenne einen Oberstleutnant, der seine Geliebte hierher ausführt. Sie nehmen sich immer ein Zimmer im ersten Stock.«
Sie schaut mich an, und im gleichen Augenblick ist die Sache entschieden. Ich bespreche mich kurz mit dem Maître d’Hôtel. »Natürlich ist ein Zimmer frei, sehr geehrter Herr Oberstleutnant.« Nach dem Essen geleitet uns ein ernster junger Mann nach oben und nimmt ohne jede Regung ein üppiges Trinkgeld entgegen.
»Was meinst du, wann ist die Liebe besser: vor oder nach dem Essen?«, fragt Blanche hinterher.
»Für beides gibt es Gründe. Aber ich glaube, vorher.« Ich küsse sie und steige aus dem Bett.
»Ich glaube auch. Das nächste Mal machen wir es vorher.«
Sie ist fünfundzwanzig. Während Pauline, die vierzig ist, sich im Dunkeln auszieht und sich danach wohlig in ein Laken oder Badetuch wickelt, liegt Blanche nackt im elektrischen Licht auf dem Rücken, raucht eine Zigarette und be gutachtet die zappelnden Zehen ihres rechten Fußes, der auf dem Knie ihres linken angezogenen Beins ruht. Sie streckt den Arm aus und schnippt die Zigarettenasche lässig in die Richtung des Aschenbechers.
»Na ja«, sagt sie. »Die richtige Antwort ist natürlich: beides.«
»Es kann nicht beides besser sein, mein Liebling«, sage ich, immer ganz der Lehrer. »Das wäre nämlich unlogisch.« Ich habe mir den Vorhang wie eine Toga um den Leib gewickelt, stehe am Fenster und schaue über den Uferdamm zur Île Saint-Louis. Ein Schiff gleitet vorüber und schneidet eine glänzende Furche in den schwarzen Fluss. Das Deck ist wie für eine Feier hell erleuchtet, aber vollständig leer. Ich konzentriere mich darauf, diesen Augenblick in meinem Gedächtnis abzuspeichern für den Fall, dass mich jemals jemand fragen sollte: Wann warst du ein zufriedener Mensch? Dann kann ich sagen: Es gab da einmal einen Abend mit einem Mädchen im Tour d’Argent …
»Stimmt es, dass bei der Dreyfus-Affäre Armand du Paty irgendwie seine Hand im Spiel hatte?«, fragt Blanche plötzlich vom Bett hinter mir.
Der Augenblick erstarrt und verschwindet. Ich brauche mich nicht umzudrehen, ich sehe ihr Spiegelbild im Fenster. Ihr rechter Fuß malt immer noch unaufhörlich Kreise in die Luft. »Wo hast du denn das gehört?«
»Aimery hat gestern Abend so was angedeutet.« Sie dreht sich schnell auf den Bauch und drückt die Zigarette aus. »Was natürlich bedeutet, dass sich der arme Jude zwangsläufig als unschuldig erweisen wird.«
Das ist das erste Mal, dass mir gegenüber jemand äußert, dass Dreyfus vielleicht unschuldig sein könnte. Ihre Fri volität schockiert mich. »Das ist ein Thema, über das man keine Witze macht, Blanche.«
»Das tue ich nicht, Liebling! Das meine ich vollkommen ernst!« Sie stopft sich das Kissen zurecht und verschränkt die Hände hinter dem Kopf. »Ich fand das damals ziemlich sonderbar … ihm in aller Öffentlichkeit die Abzeichen herunterzureißen und ihn auf einer einsamen Insel auszusetzen – alles ein bisschen übertrieben, oder? Hätte ich selbst draufkommen können, dass da Armand du Paty dahintersteckt! Er kleidet sich vielleicht wie ein Armeeoffizier, aber unter der Uniform schlägt das Herz einer romantischen Schriftsteller-Lady.«
Ich lache. »Meine Liebe, ich verneige mich vor deiner höheren Kenntnis dessen, was unter seiner Uniform vorgeht. Aber zufällig weiß ich mehr über den Dreyfus-Fall als du, und glaube mir, an den Untersuchungen waren außer deinem früheren Liebhaber noch jede Menge anderer Offiziere beteiligt!«
Im Fenster sehe ich, dass sie eine Schnute zieht. Sie mag es gar nicht, wenn man sie an die Geschmacksverirrung dieser Affäre mit du Paty erinnert. »Wie du so dastehst, Georges, siehst du aus wie Jupiter. Sei ein guter Gott, und komm wieder ins Bett …«
•
Die Unterhaltung mit Blanche beunruhigt mich nicht sehr. Der Anflug eines Hauchs von Zweifel – nein, so würde ich es nicht gerade nennen, eher Bedenken – hat sich in meinem Kopf eingenistet, und das auch nicht so sehr wegen Dreyfus’ Schuld, sondern wegen seiner Strafe. Warum, frage ich mich, bestehen wir auf diesem absurden und teuren Brimborium von Strafe, für die vier oder fünf Wachen erforderlich sind, die schweigend mit Dreyfus auf dieser winzigen Insel
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