Intrige (German Edition)
strenges Memorandum, zu Händen aller meiner Offiziere, in dem ich die neuen Regeln festlege. Dann setze ich einen Vermerk an General Gonse auf, in dem ich um die Zuteilung neuer Büros für die Statistik-Abteilung im Hauptgebäude des Ministe riums ersuche oder zumindest die Renovierung der vorhandenen Diensträume. Als ich fertig bin, fühle ich mich besser. Ich habe das Gefühl, endlich das Kommando übernommen zu haben.
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Im Lauf desVormittags bringt mir Henry wie gewünscht die letzte Lieferung von Auguste. Ich bin auf weiteren Ärger gefasst und entschlossen, nicht nachzugeben. Obwohl seine Erfahrung für das reibungslose Funktionieren der Abteilung von großer Bedeutung ist, bin ich im äußersten Fall auch gewillt, ihn in eine andere Einheit versetzen zu lassen. Doch zu meiner Überraschung ist er lammfromm. Er zeigt mir, wie viel er schon wiederhergestellt hat und was noch zu tun bleibt, und erbietet sich höflich, mir zu zeigen, wie man die winzigen Teile zusammenklebt. Um ihn bei Laune zu halten, probiere ich es, aber diese Art von Arbeit ist mir zu knifflig und zeitraubend. Außerdem habe ich die gesamte Abteilung zu leiten, auch wenn Auguste vielleicht unsere wichtigste Agentin ist. Ich mache meinen Standpunkt noch einmal klar: Ich wolle lediglich als Erster einen Blick auf das Material werfen, den Rest überließe ich dann gern ihm und Lauth.
Er dankt mir für meine Offenheit, und danach herrscht Frieden zwischen uns. In den folgenden Monaten ist er gut gelaunt, einsichtig, freundlich und engagiert – zumindest mir gegenüber. Gelegentlich, wenn ich aus meinem Büro in den Gang trete, überrasche ich ihn, Lauth und Junck, wie sie sich leise unterhalten. Die Geschwindigkeit, mit der ihre Köpfe auseinanderfahren, sagt mir, dass sie über mich gesprochen haben. Einmal, als ich vor der Tür zu Gribelins Archiv kurz stehen bleibe, um ein paar Papiere in einem Ordner zu sortieren, die ich ihm zurückgeben will, höre ich hinter der Tür deutlich Henrys Stimme. »Er glaubt, dass er ja so viel cleverer ist als wir alle, das halte ich einfach nicht aus!« Aber ich kann mir nicht sicher sein, dass er mich meint – und selbst wenn, bin ich gewillt, es zu ignorieren. Über welchen Chef welcher Organisation wird hinter dessen Rücken nicht gelästert, besonders wenn er sich bemüht, für Disziplin und Effizienz zu sorgen?
Für den Rest des Sommers und bis in den Herbst und Winter 1 8 9 5 hinein konzentriere ich mich darauf, mich gründlich in meine neue Aufgabe einzuarbeiten. Ich erfahre, dass Agent Auguste immer dann, wenn sie eine Lieferung zu übergeben hat, morgens als Erstes einen bestimmten Blumentopf auf den Balkon ihrer Wohnung in der Rue Surcouf stellt. Das heißt, dass sie um neun Uhr am Abend desselben Tages in der Basilika Sainte-Clotilde sein wird. Ich sehe eine Möglichkeit, meine Praxiskenntnisse zu erweitern. »Ich möchte heute Abend das Material abholen«, erkläre ich Henry eines Tages im Oktober. »Nur um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie das alles abläuft.«
Ich kann buchstäblich sehen, wie er seine Einwände hinunterschluckt. »Gute Idee«, sagt er.
Am Abend gehe ich in Zivil mit meiner Aktentasche zum Treffpunkt. Die Basilika, diese riesige pseudogotische Fabrik des Aberglaubens mit den zwei Türmen, befindet sich nur wenige Gehminuten entfernt. Ich kenne sie noch aus den Zeiten, als César Franck der Organist dort war und ich regelmäßig seine Konzerte besuchte. Ich bin weit vor der Zeit vor Ort und befolge Henrys Anweisungen. Ich betrete die leere Seitenkapelle, gehe zur dritten Stuhlreihe von vorn, schlüpfe vom Gang nach links in die Reihe, knie mich am dritten Sitzplatz hin und schiebe zweihundert Francs zwi schen die Seiten des dort liegenden Gebetbuches. Dann ziehe ich mich in die letzte Bankreihe zurück, setze mich und warte. Ich bin völlig allein, aber wenn mich jemand sehen würde, dann hielte er mich bestimmt für einen sorgenvollen Beamten, der auf dem Heimweg vom Büro um einen Rat bei seinem Schöpfer nachsucht.
Obwohl das, was ich hier tue, ganz und gar ungefährlich ist, spüre ich meinen Herzschlag. Lächerlich! Vielleicht liegt es an den flackernden Kerzen, dem Geruch nach Weihrauch oder am Widerhall der Schritte und flüsternden Stimmen, die aus dem gewaltigen Hauptschiff der Kirche herüberdrin gen. Was es auch ist und obwohl ich meinen Glauben schon vor langer Zeit verloren habe, spüre ich, dass dieser Transaktion auf geweihtem Boden etwas Frevelhaftes
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