Intrige (German Edition)
Anscheinend will er noch etwas vorbringen, besinnt sich dann aber eines anderen. Er seufzt. »Ich wünschte, Major Henry wäre jetzt hier.«
»Keine Sorge«, sage ich beruhigend. »Henry kommt bald zurück. Und bis dahin schaffen wir beide das auch.«
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Ich schicke ein Telegramm an meinen alten Kameraden aus Tonkin, Albert Curé, Major beim 74 . Infanterieregiment in Rouen, und teile ihm mit, dass ich morgen in der Gegend sei und ob ich bei ihm vorbeischauen könne. Seine Antwort besteht aus einem einzigen Wort: Jederzeit.
Am nächsten Morgen nehme ich am Buffet im Gare Saint-Lazare ein schnelles Frühstück ein und steige dann in den Zug in die Normandie. Als die Vororte hinter uns liegen und wir durch offene Landschaft fahren, überkommt mich trotz meiner ernsten Mission ein Gefühl der Hochstim mung. Zum ersten Mal seit Wochen bin ich meinem Schreibtisch entkommen. Es ist ein Frühlingstag. Ich bin in Bewegung. Meine Aktentasche liegt geschlossen neben mir, und an meinem Fenster gleiten in einem pastoralen Diorama die ländlichen Motive vorüber – braune und weiße Kühe, die auf den saftig grünen Wiesen wie glänzend lackierte Bleifiguren aussehen, gedrungene, graue normannische Kirchen in Dörfern mit roten Dächern, bunt gestrichene Lastkähne auf dem beschaulichen Kanal, Sandwege und hohe Hecken mit ersten sprießenden Blättern. Es ist das Frankreich, für das ich kämpfe – wenn auch nur dadurch, dass ich den Müll eines phallusgesteuerten preußischen Offiziers zusammenklebe.
Knapp zwei Stunden später erreichen wir Rouen und tuckern im Schritttempo an der Seine entlang auf die große Kathedrale zu. Über dem breiten Fluss stoßen kreischende Möwen herab. Immer wieder vergesse ich, wie nah am Ärmelkanal die Hauptstadt der Normandie liegt. Vom Bahnhof mache ich mich zu Fuß auf den Weg zur Kaserne Pélissier. Ich durchquere das für eine Garnisonsstadt typische Viertel, das geprägt ist von öden Schiffsausstattern und Schuhmacherläden und jener bestimmten Art von düsteren Bars, die ausnahmslos von ehemaligen Soldaten betrieben werden und von deren Besuch man einheimischen Zivilisten nur abraten kann. Das 74 . Infanterieregiment ist in drei großen, dreistöckigen Gebäuden untergebracht. Sie ragen hinter einer hohen Mauer auf und bestehen aus sich abwechselnden Streifen von roten Ziegeln und grauen Steinen. Nach allem, was man von außen erkennen kann, könnte es sich genauso gut um eine Fabrik, eine Irrenanstalt oder ein Gefängnis handeln. Am Tor zeige ich meinen Ausweis vor, und ein Ordonnanzoffizier führt mich zwischen zwei Schlafbaracken hindurch und dann über den Exerzierplatz mit Fahnenmast und Trikolore, Platanen und Wassertrögen zum Verwaltungsgebäude, das sich auf der anderen Seite des Geländes befindet.
Ich gehe die von vielen schweren Militärstiefeln ausgetretene Treppe hinauf in den ersten Stock. Curé ist nicht in seinem Büro. Sein Adjutant sagt, er mache gerade eine Ausrüstungsinspektion. Er bittet mich zu warten. Sein Büro ist bis auf einen Schreibtisch und ein paar Stühle leer. Durch das hohe, schmale Fenster, das leicht angelehnt ist, dringen die Brise des Frühlings und die Geräusche der Garnison herein. Ich höre das Klappern von Pferdehufen auf dem Kopf steinpflaster des Stallgeländes, das rhythmische Stampfen einer Kompanie, die von der Straße in die Kaserne mar schiert, und von weiter entfernt eine übende Musikkapelle. Ich könnte genauso gut wieder in Saint-Cyr oder als Haupt mann im Divisionshauptquartier in Toulouse sein. Sogar die Gerüche sind die gleichen – Pferdedung, Leder, Kantinen essen, Männerschweiß. Meine weltläufigen Freunde in Paris wundern sich immer noch darüber, dass ich das Jahr für Jahr aushalte. Ich versuche erst gar nicht, ihnen die Wahrheit zu erzählen: dass es die unveränderliche Gleichförmigkeit ist, die mich anzieht.
Curé stürzt herein und kann gar nicht aufhören, sich zu entschuldigen. Erst salutiert er, dann schütteln wir uns die Hand, und schließlich umarmen wir uns verlegen – aber erst auf meine Initiative hin. Seit dem Konzert bei den de Comminges im letzten Sommer haben wir uns nicht mehr gesehen. Damals hatte ich den Eindruck, dass ihn irgendetwas wurmt. Curé ist ein ehrgeiziger Mann, ein oder zwei Jahre älter als ich. Es wäre nur zu menschlich, wenn er mich um meinen neuen Rang beneidete.
»Nun«, sagt er, tritt einen Schritt zurück und schaut mich an. »Herr Oberstleutnant!«
»Man braucht etwas
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