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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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gleichmäßig, ausgreifend. Ich bin mir fast sicher, dass ich sie schon einmal gesehen habe. Erst glaube ich, es läge daran, weil sie der von Dreyfus ähnelt, dessen Korrespondenz ich in letzter Zeit viele Stunden lang studiert habe.
    Und dann fällt mir der Bordereau wieder ein – das sichergestellte Begleitschreiben aus Schwartzkoppens Papierkorb, das Dreyfus des Verrats überführt hat.
    Ich schaue mir die Briefe noch einmal an.
    Nein, das kann nicht sein …
    Wie ein Mann in einem Traum erhebe ich mich und gehe die wenigen Schritte über den Teppich zum Tresor. Meine Hand zittert leicht, als ich den Schlüssel ins Schloss schiebe. Der Umschlag, in dem die Fotografie des Bordereaus steckt, liegt immer noch da, wo Sandherr ihn hingelegt hat. Seit Monaten will ich das Foto schon nach oben zu Gribelin bringen, damit er es in seinem Archiv ablegen kann.
    Der in Kopie vor mir liegende Bordereau besteht aus dreißig schmalen, handgeschriebenen Zeilen – kein Datum, keine Adresse, keine Unterschrift:
    Hiermit übersende ich Ihnen einige interessante Informa tionen …
    1. eine Mitteilung über die hydraulische Bremse des 1 2 0ers und wie sie in der Praxis funktionierte
    2. eine Mitteilung über Bedeckungstruppen (mit dem neuen Plan wird es einige Modifizierungen geben)
    3. eine Mitteilung über eine Veränderung der Artillerieformationen
    4. eine Mitteilung über Madagaskar
    5. den Entwurf der Schießvorschrift der Feldartillerie ( 1 4. März 1 89 4)
    Der letzte Absatz führt aus, dass das Kriegsministerium einzelnen Offizieren nicht erlaube, die Schießvorschrift der Feldartillerie für längere Zeit zu behalten. »Wenn Sie sich herausschreiben wollen, was Sie interessiert, und den Entwurf danach wieder zu meiner Verfügung halten, werde ich ihn mitnehmen. Sonst kann ich ihn auch Wort für Wort abschreiben lassen und Ihnen die Kopie zuschicken. Ich bin ab sofort im Manöver.«
    Der führende Schriftexperte von Paris hat geschworen, dass diese Zeilen von Dreyfus geschrieben wurden. Ich gehe mit dem abfotografierten Bordereau zum Schreibtisch und lege ihn zwischen die beiden Briefe von Esterházy. Ich beuge mich darüber.
    Die Schrift ist identisch.

1 0
    Mehrere Minuten sitze ich regungslos da und halte die Foto grafie des Bordereaus in den Händen. Ich könnte aus Marmor gehauen sein, eine Skulptur von Rodin: Der Leser . Was mich wirklich erstarren lässt, noch mehr als die übereinstimmende Schrift, ist der Inhalt – die Obsession mit der Artillerie, das Angebot, die Schießvorschrift Wort für Wort abschreiben zu lassen, der unterwürfige Ton des Verkäufers. Das passt haargenau zu Esterházy. Wie schon nach dem Erhalt des Petit Bleu überlege ich kurz, ob ich die Beweise dem Minister sofort vorlegen soll. Aber auch jetzt ist mir klar, dass das töricht wäre. Meine vier goldenen Prinzipien sind wichtiger denn je: einen Schritt nach dem anderen; keine Emotionen; keine vorschnellen Urteile; keine Mitwisser, bevor du nicht eindeutige Beweise hast.
    Ich ziehe meinen Uniformrock glatt, nehme die beiden Briefe und gehe durch den langen Korridor zu Lauths Büro. Vor der Tür zögere ich kurz, klopfe dann an und gehe sofort hinein.
    Der Dragonerhauptmann sitzt, die langen Beine ausgestreckt, die Augen geschlossen, zurückgelehnt auf seinem Stuhl. Der ruhende blonde Kopf hat etwas Engelhaftes. Ohne Zweifel hat er Erfolg bei den Frauen, obwohl er eine junge Frau hat, soweit ich weiß. Ich frage mich, ob er Affären hat. Ich will schon wieder gehen, als er plötzlich seine blauen Augen öffnet und mich anschaut. Und in diesem unbedachten Augenblick flackert darin etwas auf, was mehr als Überraschung ausdrückt: Angst.
    »Pardon«, sage ich. »Ich wollte Sie nicht stören. Ich komme später noch einmal wieder.«
    »Nein, nein.« Verlegen steht er auf. »Verzeihen Sie, Herr Oberstleutnant, aber es ist so höllisch heiß hier drin, und ich bin heute noch keinen Schritt vor die Tür gekommen …«
    »Schon in Ordnung, mein lieber Lauth, ich weiß genau, wie Sie sich fühlen. Tag für Tag in einem Büro eingesperrt zu sein, das ist kein Leben für einen Soldaten. Bitte, nehmen Sie wie der Platz. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?« Ohne eine Antwort abzuwarten, ziehe ich einen Stuhl heran und setze mich ihm gegenüber vor den Schreibtisch. »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.« Ich schiebe ihm die beiden Briefe über den Schreibtisch. »Ich möchte, dass Sie die hier abfotografieren, aber so, dass die

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