Intrige (German Edition)
Urlaub. Die Woh nung der Deutschen ist verwaist. Ich schreibe an Bois deffre auf seinem Landsitz in der Normandie und bitte um die Erlaubnis, eine Probe von Esterházys Handschrift anfordern zu dürfen, damit ich überprüfen kann, ob sie mit der auf einem der von Agent Auguste sichergestellten Beweis stücke übereinstimmt. Meine Bitte wird mit der Begründung abgelehnt, das würde eine Provokation darstellen. Falls man Esterházy aus der Armee entfernen müsse, betont Boisdeffre zum wiederholten Mal, dann in aller Stille und ohne Skandal. Ich bringe das Thema beim Kriegsminister zur Sprache. Er hat Verständnis für mein Anliegen, lehnt es in diesem Fall aber ab, sich über die Entscheidung des Generalstabschefs hinwegzusetzen.
Inzwischen ist die Atmosphäre in der Statistik-Abteilung so unerträglich wie der Abwassergestank. Wenn ich mein Büro verlasse, höre ich gelegentlich, wie im Gang Türen zufallen. Das Getuschel geht wieder los. Am Fünfzehnten findet im Warteraum eine kleine Feier statt, um unseren Concierge Bachir in den Ruhestand zu verabschieden und seinen Nachfolger Capiaux zu begrüßen. Ich spreche ein paar Dankesworte. »Das Haus wird ohne unseren alten Kameraden Bachir nicht mehr dasselbe sein«, sage ich. Worauf Henry in sein Glas brummt, gerade laut genug, dass jeder es hören kann: »Und warum haben Sie ihn dann abgeschoben?« Hinterher gehen alle in die Taverne Royale, eine beliebte Bar gleich um die Ecke, um weiterzutrinken. Sie fragen mich nicht, ob ich mitkommen möchte. Ich sitze allein mit einer Flasche Kognak an meinem Schreibtisch und denke darüber nach, was Henry nach seiner Rückkehr aus Basel gesagt hat: Wer das auch ist, er war nie besonders wichtig, und aktiv ist er auch nicht mehr . Habe ich all das böse Blut verursacht, weil ich hinter einem Agenten her bin, der nie viel mehr als ein Windhund und Fantast war?
Am Zwanzigsten fährt Henry für einen Monat zu seiner Familie ins Département Marne. Normalerweise steckt er noch kurz den Kopf in mein Büro, um sich zu verabschieden. Diesmal verdrückt er sich ohne ein Wort. In seiner Abwesenheit versinkt das Haus noch mehr in der Dumpfheit des Augusts.
Und dann, am Nachmittag des Siebenundzwanzigsten, einem Donnerstag, erreicht mich eine Nachricht von Billots Ordonnanzoffizier Hauptmann Calmon-Maison mit der Bitte um eine schnellstmögliche Unterredung. Da ich meinen Eingangskorb schon abgearbeitet habe, gehe ich sofort hinüber: durch den Garten und weiter die Treppe hinauf ins Sekretariat des Ministers. Die Fenster stehen offen. Der Raum ist hell und luftig. Drei, vier junge Offiziere erledigen einmütig ihre Arbeit. Ich bin ein bisschen neidisch: Wie viel lieber wäre ich hier als drüben in meinem dumpfigen, verbitterten Kaninchenbau!
»Ich habe hier etwas, von dem General Billot meint, dass Sie sich das einmal ansehen sollten«, sagt Calmon-Maison, geht zu seinem Aktenschrank und nimmt einen Brief heraus. »Ist gestern eingetroffen. Von Major Esterházy.«
Der handgeschriebene Brief ist an Calmon-Maison adressiert, abgeschickt in Paris vor zwei Tagen. Esterházy ersucht, zum Generalstab versetzt zu werden. Die Schlussfolgerungen aus dieser Anfrage treffen mich mit fast physischer Wucht: Er will ins Ministerium. Er will Zugang zu geheimem Material, das er verkaufen kann …
»Mein Kollege Hauptmann Thévenet hat ein ähnliches Schreiben erhalten«, sagt Calmon-Maison.
»Darf ich es sehen?«
Er gibt mir den zweiten Brief. Er ist in nahezu gleichlautenden Worten gehalten wie der erste. »Ich ersuche um eine sofortige Versetzung vom Hauptquartier des 74 . Infanterieregiments in Rouen … Ich glaube, die nötige Befähigung für die Arbeit im Generalstab nachgewiesen zu haben … Ich habe in der Fremdenlegion und als Übersetzer für die deutsche Sprache in der Geheimdienstabteilung gedient … Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mein Gesuch der zuständigen Stelle zur Kenntnis bringen könnten …«
»Haben Sie geantwortet?«
»Wir haben einen Hinhaltebrief geschrieben. In der Art: Der Minister wird Ihr Anliegen in Erwägung ziehen.«
»Kann ich mir die ausleihen?«
Calmon-Maisons Antwort hört sich an, als betete er einen juristischen Paragrafen herunter. »Der Minister hat mich gebeten, Ihnen mitzuteilen, dass er keine Einwände hat, wenn Sie im Zuge Ihrer Ermittlungen Gebrauch von diesen Briefen machen.«
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Im Büro setze ich mich an den Schreibtisch und breite die Briefe vor mir aus. Die Schrift ist akkurat,
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