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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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sie ziemlich gleich aus. Am besten, Sie nehmen sie mit.«
    Noch zehn Minuten zuvor war mir Dreyfus nicht verdächtiger erschienen als jeder x-beliebige andere. Aber die Macht der Suggestion ist heimtückisch. Als der Oberst und ich zusammen durch die Korridore des Ministeriums gingen, beflügelten zahllose Gedanken über Dreyfus meine Fantasie – über seine immer noch in Deutschland lebende Familie; über seine Eigenbrötelei, seine Klugheit, seine Arroganz; über sein Bestreben, in den Generalstab zu gelangen, über seine umsichtige Beziehungspflege von höheren Offizieren. Als wir schließlich General Gonse’ Büro erreichten, hatte ich mich beinahe selbst überzeugt: Er hasst uns, natürlich würde er uns verraten; er hat uns schon immer gehasst, weil er anders ist als wir und weiß, dass er mit seinem ganzen Reichtum immer anders sein wird; er ist eben …
    Ein richtiger Jude!
    Außer von Gonse wurden wir von Oberst d’Aboville, Oberst Fabre, Leiter der Vierten Abteilung, Oberst Lefort, Leiter der Ersten, und Oberst Sandherr erwartet. Ich legte Dreyfus’ Briefe auf Gonse’ Schreibtisch und trat zurück, worauf sich meine Vorgesetzten um den Tisch drängten und die Briefe in Augenschein nahmen. Aus der Traube uniformierter Rücken waren reihenweise entsetzte, entschiedene Ausruf zu hören: »Da, wie er das große S und das große J schreibt … Und das kleine m und r, sehen Sie das …? Und die Abstände zwischen den Wörtern sind genau gleich … Ich bin ja kein Experte … Nein, ich auch nicht, aber … ich würde sagen, die Schrift ist identisch …«
    Sandherr richtete sich auf und schlug sich mit dem Handballen gegen die Stirn. »Ich hätte es wissen müssen! Wie oft habe ich gesehen, wie er sich bei allen möglichen Leuten herumgedrückt und Fragen gestellt hat …?«
    »In meinem Bericht habe ich genau das prophezeit«, sagte Fabre und drehte sich zu mir. »Erinnern Sie sich, Major Picquart? Ein Offizier mit Mängeln, ohne die für eine Verwendung im Generalstab unerlässlichen charakterlichen Qualitäten … Das waren genau meine Worte, stimmt’s?«
    »Ja, Herr Oberst«, sagte ich.
    »Wo genau ist Dreyfus jetzt?«, fragte mich Gonse.
    »Im Infanteriefeldlager außerhalb von Paris, noch bis Ende nächster Woche.«
    »Gut«, sagte Sandherr. »Sehr gut. Dann haben wir noch etwas Zeit. Wir müssen das noch einem Schriftexperten vor legen.«
    »Dann glauben Sie wirklich, dass er unser Mann ist?«, fragte Gonse.
    »Na ja, wenn nicht er, wer dann?«
    Niemand sagte etwas darauf. Das war der springende Punkt. Wenn nicht Dreyfus der Verräter war, wer war es dann? Sie? Ich? Ihr Kamerad? Meiner? Wenn es jedoch Dreyfus war, dann hatte diese kräftezehrende Jagd nach einem Feind im Innern endlich ein Ende. Ohne es auszusprechen oder auch nur zu denken: Wir alle wollten, dass es so war.
    Gonse seufzte. »Am besten sage ich gleich General Mercier Bescheid. Möglich, dass er sofort den Premierminister informieren will.« Er warf mir einen Blick zu, ganz so, als wäre ich verantwortlich dafür, diese Seuche ins Ministerium eingeschleppt zu haben. »Ich glaube, wir brauchen Major Picquart nicht länger aufzuhalten.« Er wandte sich zu Boucher. »Was meinen Sie, Herr Oberst?«
    »Nein«, sagte Boucher. »Danke, Picquart.«
    »Danke, Herr General.«
    Ich salutierte und ging.
    •
    Eine Zeit lang stehe ich schweigend da. Plötzlich wird mir bewusst, dass Gribelin mich immer noch anschaut.
    »Komisch«, sage ich und schwenke den Bordereau hin und her. »Wie das alles wieder nach oben spült.«
    »Ja, kann ich mir vorstellen.«
    •
    Und damit hätte die Affäre, was meine Beteiligung angeht, eigentlich beendet sein können. Aber dann traf zu meiner Überraschung eine Woche später in meiner Wohnung ein Telegramm ein, das mich für Sonntag, 1 4 . Oktober, sechs Uhr abends, ins Büro des Kriegsministers bestellte.
    Zur festgesetzten Zeit fand ich mich im Hôtel de Brienne ein. Schon auf der Treppe hörte ich Stimmen, und im ersten Stock sah ich dann am Ende des Korridors eine kleine Gruppe Männer. Vor der Tür des Ministers standen General Boisdeffre, General Gonse, Oberst Sandherr und zwei andere, deren Namen ich nicht kannte: ein korpulenter Major mit weinrotem Gesicht, wie ich Träger des roten Bandes der Ehrenlegion, und ein Kommissar von der Sûreté. Und ich sah noch einen weiteren Offizier. Er stand etwas weiter hinten im Gang neben dem Fenster, trug ein Monokel, machte einen ziemlich selbstgefälligen Eindruck und

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