Intrige (German Edition)
dass Sie der einzige Lehrer sind, der mir eine schlechte Note gegeben hat.«
»Nun ja«, sagte ich. »Vielleicht weil ich die hohe Meinung, die Sie von Ihren Fähigkeiten haben, nicht teile.«
»Es hat also nichts damit zu tun, dass ich Jude bin?«
Die Plumpheit seiner Anschuldigung verblüffte mich. »Ich bin peinlichst darauf bedacht, keinerlei persönliche Vorbehalte in mein Urteil einfließen zu lassen.«
»›Peinlichst darauf bedacht‹ – Ihre Wortwahl lässt darauf schließen, dass es möglicherweise doch ein Faktor sein könnte.« Er war zäher, als er aussah. Er gab nicht klein bei.
»Wenn Sie fragen, Herr Hauptmann, ob ich Juden besonders zugetan bin, so würde die ehrliche Antwort wohl nein lauten«, erwiderte ich kühl. »Aber wenn Sie andeuten wollen, dass ich Sie aus diesem Grund in beruflicher Hinsicht benachteiligen könnte, dann kann ich Ihnen versichern – niemals!«
Damit war die Unterredung beendet. Danach gab es keine privaten Annäherungsversuche mehr, keine weiteren Einladungen zu Abendessen oder hochkarätigen Jagdgesellschaften oder Sonstigem.
Am Ende meiner dreijährigen Lehrtätigkeit zahlte sich mein Glücksspiel aus. Ich wurde von der École in den Generalstab versetzt. Und schon damals war ich für die Statistik- Abteilung im Gespräch: Kenntnisse in Topografie bilden ein nützliches Fundament für Geheimdienstarbeit. Aber ich wehrte mich hartnäckig dagegen, Spion zu werden. Stattdessen machte man mich zum stellvertretenden Leiter der Dritten Abteilung (Einsätze und Ausbildung). Und hier begegnete ich Dreyfus wieder.
Die jahrgangsbesten Absolventen der École Supérieure wurden zur Belohnung für zwei Jahre dem Generalstab zugeteilt, für jeweils sechs Monate in jede der vier Abteilungen. Zu meinen Aufgaben gehörte die Betreuung der sogenannten Anwärter. Dreyfus hatte als Neunter seines Jahrgangs abgeschlossen. Er hatte deshalb Anspruch auf ein Praktikum im Kriegsministerium. Ich hatte zu entscheiden, in welcher Reihenfolge er die Abteilungen durchlief. Er würde der einzige Jude im Generalstab sein.
Es war eine Zeit der zunehmenden antisemitischen Hetze innerhalb der Armee. Die Stimmung wurde von dem üblen Schmierblatt La Libre Parole aufgepeitscht , das behauptete, man würde jüdische Offiziere bevorzugt behandeln. Auch wenn er mir nicht sympathisch war, so habe ich doch versucht, mich um Dreyfus zu kümmern und ihn vor dem Schlimmsten zu bewahren. Ich hatte einen alten Freund in der Vierten Abteilung (Transport), Major Armand Mercier-Milon, der keinerlei Vorurteile hegte. Ich bat ihn um Hilfe. Mit dem Ergebnis, dass Dreyfus sein Praktikum Anfang 1 8 9 3 in der Vierten Abteilung begann. Im Sommer wanderte er weiter in die Erste (Verwaltung), Anfang 1 89 4 in die Zweite (Geheimdienst), bevor er zum Abschluss im Juli in meine Abteilung kam, die Dritte, mit der er seine Runde durch den Generalstab beendete.
In jenem Sommer und Herbst 1894 bekam ich Dreyfus nur selten zu Gesicht – er war oft außerhalb von Paris. Wenn wir uns zufällig auf dem Gang begegneten, grüßten wir uns hinreichend höflich mit einem Nicken. Aus den Berichten seiner Abteilungsleiter wusste ich, dass man ihn für einen harten und intelligenten Arbeiter hielt, aber auch für wenig umgänglich, für einen Einzelgänger. Manche beschrieben ihn als kühl und arrogant gegenüber seinesgleichen und als unterwürfig gegenüber Vorgesetzten. Während eines Besuchs des Generalstabs in Charmes belegte er General Boisdeffre erst beim Abendessen mit Beschlag und entführte ihn dann über eine Stunde lang, um mit ihm bei einer Zigarre über Verbesserungen in der Artillerie zu diskutieren, was die anwesenden höheren Offiziere natürlich sehr verärgerte. Außerdem gab er sich keinerlei Mühe, seinen Reichtum zu verbergen. Er hatte ein Weinkabinett in seiner Wohnung, beschäftigte drei oder vier Diener, hielt Pferde, sammelte Bilder und Bücher, ging regelmäßig auf die Jagd und kaufte bei Guinard & Cie in der Avenue de l’Opéra eine hahnlose Schrotbüchse für fünfhundertfünfzig Francs – das Doppelte seines Monatssolds in der Armee.
Seine Weigerung, den dankbaren Außenseiter zu spielen, hatte fast etwas Heldenhaftes. Im Nachhinein liegt auf der Hand, wie dumm sein Verhalten war, vor allem im herrschenden Klima.
Ein richtiger Jude …
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In der Hitze des Augusts schleppt sich die Operation Wohltäter dahin. Esterházy taucht nicht mehr in der Rue de Lille auf. Schwartzkoppen macht anscheinend
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