Intrusion
holen, Raydon, wahrhaftig – ich – halt, jetzt erinnere ich mich! Mir kam der Gedanke … also, mir kam der Gedanke, dass ich gern den Notleidenden helfen würde.«
Raydon blinzelte. »Den was?«
»Den Notleidenden , Ray. Gibt es sie nicht überall? Leiden sie nicht etwa Not?«
»Im Großen und Ganzen wohl schon«, meinte Raydon und rückte seine Brille zurecht. »Aber, Euer Gnaden, solltet Ihr Euch nicht mit erhabeneren Zielen …«
»Oh, das ist ein erhabenes Ziel!«, rief Julius. »Vergiss nicht, Ich verfolge das gute Leben. So wie es in deinem Buch steht. Das bedeutet, dass ich gut sein muss, oder? Die Menschen – sie brauchen in diesen finsteren Zeiten ein Leuchtfeuer, oder?«
Raydon warf einen Blick zum Himmel. »Es ist elf Uhr vormittags, Euer Gnaden.«
Julius wandte sich ihm zu. Er zog eine Augenbraue hoch, was einen strengen Tadel an dem eben Gesagten zum Ausdruck bringen sollte, nur für den Fall, dass er den Faden der Diskussion verlor. Raydon wand sich. »Aber der Begriff ›gut‹ ist so relativ, Euer Gnaden.«
»Wirklich?« Julius stieß einen Arm himmelwärts.
»Gewiss doch. Ich habe diesen Punkt in Kapitel zwei behandelt. ›Was ist gut?‹ Die Quintessenz lautet, dass ein Löwe es als gut empfindet, einen Elch zu reißen, während der Elch natürlich …«
»Dann bedeutet das genau genommen, dass ich tun kann, was ich will?«
»Gewiss doch. Ihr seid der Herzog.«
»Sehr schön. Dann sage ich: Auf, auf, Gefährten! Wir wollen den Notleidenden helfen. Ray muss den Leuten einen Erlass verkünden, und ich muss ihnen mein Gedicht vortragen, und zuallererst müssen wir ein paar Notleidende ausfindig machen. Sagte ich dir schon, Ray, dass ich ein Gedicht verfasst habe? Ein Gedicht, das ich den Leuten zu Gehör bringen will? Ein Gedicht über meine Katze Skittles. Du platzt vermutlich fast vor Neugier. Du kannst es kaum erwarten, bis ich die Zeilen deklamiere, was?«
»Mir wird nichts anderes übrig bleiben«, seufzte Raydon und verneigte sich.
»Oh, wunderbar!«, rief Julius. Wieder reckte er seinen Arm den Göttern entgegen. »Du darfst mich wieder Julius nennen. Ich habe dir vergeben.«
»Danke, Julius.« Raydon beäugte spöttisch den ausgestreckten Arm des Herzogs. »Wird es regnen, Julius?«
Der Herzog erstarrte. Ein düsteres Schweigen machte sich breit, bevor er den Arm senkte und mit kalter Stimme sagte: »Für den Rest der Woche bin ich ›Euer Gnaden‹.«
Auf einem kurzen Wegstück in den Wäldern um Days Past lief der Wagen plötzlich unrund. Das durch seine gläsernen Adern pulsierende rote Licht flackerte und verdüsterte sich, bis es nur noch schwach glomm. Der Motor begann zu stottern. »Oh, du Bastard !«, kreischte Julius in den Himmel, ohne seine Pose zu verändern – beide Hände zu Fäusten geballt, eine hoch über der Schulter, die andere gegen das Herz gepresst. Die Seelenqualen, die er in diesem Moment verspürte, passten wunderbar zu seiner Haltung, ein Beweis mehr dafür, dass ihn »die Götter« beobachteten. Und so gelangte er zu dem Schluss, dass er zumindest entfernt verwandt mit ihnen war.
Raydon auf dem Rücksitz wurde noch eine Spur bleicher, vor lauter Angst, der Ausruf des Herzogs habe ihm gegolten. Er hatte es nicht gewagt, die abgebrochene Federspitze zu erwähnen, und mittlerweile zwei tiefgründige Bemerkungen, ein ätzendes Bonmot und eines der seltenen demütigen Bekenntnisse menschlicher Schwäche verpasst. »Ray, weshalb haben wir kein niederes Geschöpf mit auf die Reise genommen?«, wimmerte der Herzog, als der Wagen holpernd zum Stehen kam und die roten Lichter erloschen.
»Es wurde an alles gedacht, Euer Gnaden«, erklärte Raydon und wühlte in einer Schublade unter seinem Sitz, die verklebte Weinkelche und all die Spielsachen enthielt, die einmal für die Zerstreuung des Herzogs gesorgt hatten: eine Laute, eine Karnevalsmaske, die Überreste einer im Zorn zerschmetterten Harfe. Inmitten dieses Krams befand sich ein Kaninchen, aber das arme Ding lag steif in seinem Käfig. Es war tot. »Hier wäre unser Treibstoff, aber niemand hat das Tier gefüttert. Lasst die Schuldigen enthaupten, Euer Gnaden!«
»Ja. Ein Verbrechen!« Julius spähte prüfend in die Runde. Sein Blick fiel auf den Chronisten und wurde nachdenklich.
»Nein, Euer Gnaden!«, rief Raydon, der die Gefahr witterte. »Bestimmt kommt schon bald jemand hier vorbei.«
»Soll ich?«, fragte Slythe. Raydon keuchte, als ein schlanker Silberpfeil auf die Handfläche des
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