Inversionen
die Schulter. Sie reagierte nicht. Ich ließ meine Hand im Rhythmus ihres Schaukelns vor und zurück gehen, dann legte ich ihr den Arm fester um die Schulter. Als ich sie so berührte, kam sie mir mit einemmal irgendwie kleiner vor, als ich sie immer empfunden hatte.
Sie erweckte nicht den Eindruck, als würde sie in meiner Berührung eine schreckliche Entgleisung meinerseits sehen, also faßte ich noch mehr Mut, ging noch näher zu ihr und legte beide Arme um sie, hielt sie fest, beendete behutsam ihr Schaukeln, spürte die Wärme ihres Körpers und schmeckte den süßen Hauch ihres Atems. Sie ließ mich gewähren.
Ich tat etwas, das ich mir wenige Augenblicke zuvor vorgestellt hatte zu tun, etwas, das ich mir seit einem Jahr vorgestellt hatte zu tun, etwas, von dem ich geglaubt hatte, es würde niemals, niemals geschehen, etwas, wovon ich jede Nacht geträumt hatte, jahrelang, und etwas, von dem ich gehofft hatte und immer noch hoffte, daß es zu einer noch innigeren Umarmung führen würde, so abwegig und unwahrscheinlich das auch erscheinen mochte.
Ich spürte, wie sich ihr Griff um ihren Kopf lockerte. Sie streckte die Arme aus und legte sie um mich. Ich wurde von ihr umfangen. Ich hatte das Gefühl, als ob in meinem Kopf alles schwämme. Ihr Gesicht, heiß und feucht von Tränen, war jetzt dem meinen sehr nahe. Ich zitterte vor Angst, fragte mich, ob ich es wagen dürfe, mein Gesicht dem ihren zuzuwenden, meinen Mund nahe an ihre Lippen zu bringen.
»Ach, Oelph«, sagte sie in meine Schulter. »Es ist nicht richtig, dich so zu benutzen.«
»Ihr könnt mich ganz nach Eurem Belieben benutzen, Herrin«, brachte ich mit halberstickten Worten heraus. Ich roch den zarten Duft eines exquisiten Parfüms, der von ihrem warmen Körper aufstieg und der nicht von den Dämpfen des Alkohols überlagert war und der gewiß stärker als diese zu Kopf stieg. »Ist es…?« setzte ich an, dann mußte ich aufhören, weil mein trockener Mund mich zum Schlucken zwang. »Ist es denn so verwerflich, die Gefahr auf sich zu nehmen, jemandem in die Gefühle einzuweihen, die man für denjenigen empfindet, auch wenn man den Verdacht hegt, daß der andere nichts für einen empfindet? Kann das wirklich falsch sein, Herrin?«
Sie schob sich sanft von mir weg. Ihr Gesicht, tränengestriemt, mit aufgequollenen Augen und rot, war immer noch auf eine stille Weise schön. Ihr Augen suchten die meinen. »Das ist niemals falsch, Oelph«, sagte sie leise. Sie griff nach unten und nahm meine beiden Hände in die ihren. »Aber ich bin auch nicht blinder als der König. Und auch ich bin nicht fähig zu einer Erwiderung.«
Ich überlegte einen Augenblick lang begriffsstutzig, was sie wohl gemeint hatte, bevor es mir klar wurde und sich eine schreckliche Traurigkeit auf meine Seele legte, als sich ob ein großes Leichentuch auf mein Inneres herabgesenkt hätte und mit einer trostlosen Unvermeidlichkeit all meine Hoffnungen und Träume für immer ausgelöscht hätte.
Sie legte mir eine Hand auf die Wange, und ihre Finger waren immer noch warm und trocken und gleichzeitig zart und fest, und ihre Haut, das schwöre ich, roch süß. »Du bedeutest mir sehr viel, Oelph.«
Ich hörte diese Worte, und mein Herz sank noch tiefer, fiel noch steiler ab.
»Ach ja, Herrin?«
»Natürlich.« Sie wich von mir zurück und sah zu dem zerbrochenen Glas hinab. »Natürlich.« Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl und holte tief Luft, fuhr sich mit der Hand durch die Haare, strich sich das Kleid glatt und versuchte, es ordentlich zuzuknöpfen. Anscheinend gehorchten ihre Hände ihr nicht. Ich sehnte mich danach, ihr dabei zu helfen oder vielmehr eben nicht zu helfen, aber schließlich gab sie ohnehin auf und zupfte einfach den langen Kragen zurecht. Sie sah zu mir auf, wobei sie sie sich die Wangen mit den langgliedrigen Händen trocknete. »Ich glaube, ich muß jetzt schlafen, Oelph. Würdest du mich bitte entschuldigen?«
Ich hob mein Glas vom Boden und stellte es auf den Arbeitstisch. »Natürlich, Herrin. Kann ich noch irgend etwas für Euch tun?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, es gibt nichts, das du tun könntest.« Sie wandte den Blick ab.
20. Kapitel
Der Leibwächter
»Ich habe dem Jungen eine selbsterfundene Geschichte erzählt.«
»Habt Ihr das?«
»Ja. Es war ein Haufen von Lügen.«
»Nun ja, alle Geschichten sind in gewisser Weise Lügen.«
»Die meine war schlimmer. Es war eine wahre Geschichte, die in eine Lüge
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