Irgendwann Holt Es Dich Ein
aus.«
»Danke.« Kate rang sich ein mattes Lächeln ab. Natürlich hatte er recht. Erst kurz zuvor hatte sie sich im Spiegel in der Damentoilette gesehen und festgestellt, dass die dunklen Ringe unter ihren Augen im Begriff waren, sich über ihr gesamtes Gesicht auszubreiten.
»Wieso bist du nicht zu Hause geblieben?«, fragte Richard, der sie immer noch anstarrte.
»Warum sollte ich? Findest du, ich klinge, als gehörte ich nicht hinters Mikro?« Obgleich sie es scherzhaft sagte, war Kates Frage durchaus ernst gemeint. Sie hatte sich immer eine Menge auf ihre Professionalität eingebildet. Wenn sie zuließ, dass ihre Gefühle, die Angst und der Schlafmangel ihre Radiopräsenz beeinflussten, dann würde es rapide bergab mit ihr gehen. Sie wusste nur zu gut, dass sie ersetzbar war und Richard keinerlei Skrupel hätte, sie vor die Tür zu setzen. Zu viele Kollegen waren schon gegangen und durch Stimmen vom Band ersetzt worden, die nichts weiter taten, als die Songtitel und den Sender anzusagen.
»Nein, du hörst dich prima an. Tust du doch immer.« Richard lächelte. »Du siehst bloß nicht prima aus, das ist alles. Ich mache mir Sorgen um dich. Darf ich mich denn nicht um meine Mitarbeiter sorgen?« Auch er sprach im Scherz, um die Situation zu entkrampfen.
Kate zuckte mit den Achseln und versuchte zu lachen. Sie mochte Richard, hatte ihn immer gemocht. Seit Jahren arbeiteten sie zusammen, seit Kate im Management angefangen und sie gemeinsam die Programmabteilung geleitet hatten. Eigentlich war er ein guter Boss, und Kate machte es nichts aus, dass sie ihm heute unterstellt war. Allerdings hatte Richard eine etwas schroffe Art, und er wurde zunehmend schroffer, seit die Radiosender mit sinkenden Zuhörerzahlen und sinkenden Werbeeinnahmen zu kämpfen hatten. Daher war Kate nicht sicher, ob seine Sorge tatsächlich ihrer Gemütsverfassung galt oder nicht vielmehr ihrer Moderation. Das Wohlergehen seiner Mitarbeiter rangierte für Richard weit hinter den Hörerzahlen. Kate drehte sich wieder zum Studioschreibtisch und spielte den nächsten Song, spürte aber, dass Richard nach wie vor in der Tür stand. Was wollte er noch? Sie wünschte, er würde einfach gehen und sie in Ruhe lassen. »Was gibt's?«, fragte sie beinahe schnippisch.
»Nichts, eigentlich. Ich wollte nur sagen, dass du das mit dem Anrufer wirklich gut gemacht hast. Nach dem, was passiert ist, hätte manch einer unsicher reagiert, aber du nicht. Ich bin beeindruckt. Gut gemacht.«
»Danke«, erwiderte Kate zögernd. Was würde Richard denken, wenn er wüsste, wie verängstigt sie tatsächlich war?
Kate produzierte und moderierte die Vormittagssendung auf Londons fünftbeliebtestem Privatsender. »Warm FM« war wenige Jahre zuvor umbenannt und neu gestaltet worden. Das Radioprogramm wandte sich an »die heiß begehrten Fünfunddreißig-plus-Hörer«, wie es das Marketing formulierte, hatte es jedoch nie geschafft, eine echte Konkurrenz für die Londoner Rundfunkriesen zu werden. Im Zeitalter der Konsolidierungen und Sparmaßnahmen hielt sich der Sender mit Ach und Krach über Wasser. Mitarbeiter gingen und wurden nicht ersetzt; die Wände waren ewig nicht mehr gestrichen worden, die Teppichböden fadenscheinig. Alles sah schäbig und vernachlässigt aus. Kates Taktik bestand darin, nicht aufzumucken, hart zu arbeiten und sich unentbehrlich zu machen. Sie gab sich alle Mühe, tadellos professionell zu sein und alles zu tun, damit so viele Hörer wie möglich so lange wie möglich ihre Radios eingeschaltet hatten.
Angefangen hatte sie als Journalistin. Sie hatte die Nachrichten und Talkrunden des Senders geleitet, als er sich noch ernsthaft anstrengte, bei den Großen mitzuspielen. Das Programm war seinerzeit ein mehr oder minder ausgewogener Mix aus Nachrichten und Musik gewesen. Dann hieß es, der Gürtel müsse enger geschnallt werden. Die Nachrichten wurden auf das von der Rundfunkaufsicht vorgeschriebene Mindestmaß zusammengekürzt, und der Sender stellte auf ein billigeres Musikformat um. Kate wurde der Moderatorenjob angeboten, als das Newsteam rausflog und durch ein paar neue Journalisten ersetzt wurde, die frisch vom College kamen. Der Posten war schlechter bezahlt, bedeutete aber auch weniger Stunden: von zehn bis eins auf Sendung, zuzüglich ein bis zwei Stunden für die Showprep. Den Ausschlag für Kates Entscheidung hatte jedoch die Tatsache gegeben, dass sie nicht mehr mitten in der Nacht rausgeklingelt werden würde, weil
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