Irgendwann Holt Es Dich Ein
Problem zu haben, über das Thema zu sprechen.
Wie fühlt man sich? Wie fühlen Sie sich? Das waren klassische Journalistenfragen, die Art von Fragen, die sie im Laufe ihrer Rundfunkkarriere unzähligen Leuten gestellt hatte. Und nun saß sie eben hier und bekam sie selbst gestellt. Vertrackt war einzig, dass sie die Antwort immer noch nicht wusste.
»Wer spricht da?«, fragte sie nochmals.
Einen Moment lang blieb es still in der Leitung, und dann, kurz bevor Kate den Blendregler zog, um den Anrufer rauszuwerfen, hörte sie wieder die ruhige, normal klingende Stimme. »Hier ist Andy aus Ealing. Tut mir leid, ich wollte Sie nicht aufregen, meine Liebe. Ich hatte mich bloß gefragt, wie das sein muss.«
Andy aus Ealing war einer ihrer regelmäßigen Anrufer. Im Geiste ohrfeigte sie sich, dass sie Angst bekommen hatte. Andy rief sie mindestens zwei oder drei Mal die Woche an. Er war ein bisschen seltsam - einsam wahrscheinlich -, aber ganz gewiss kein Irrer. Kate hätte seine Stimme eigentlich erkennen müssen. Wie dem auch sei, jetzt war es zu spät, seine Frage nicht mehr zu beantworten, denn sie steckte mitten in der Unterhaltung.
»Schrecklich fühlt man sich. Ein solches Erlebnis wünsche ich niemandem.« Na also! Das hörte sich gut an: professionell, aber mitfühlend, und hoffentlich knapp genug, um andere davon abzuhalten, sie nochmals deswegen anzurufen.
»Nein, das würde ich auch keinem wünschen«, sagte Andy aus Ealing. »Niemand sollte bei so etwas zugucken müssen. Na ja, wie auch immer, ich dachte einfach, ich rufe Sie mal an und frage, wie es Ihnen geht. Als Sie am Freitag nicht da waren, haben wir Sie vermisst.«
Kate war merkwürdig gerührt. Sie brachte ein »Danke« hervor, befürchtete allerdings, dass sie womöglich heulen würde, falls sie versuchte, noch mehr zu sagen. Eilig betätigte sie den Überblendregler und tippte auf einen der Touchscreens, um den nächsten Song aufzuspielen, ehe sie sich einen tiefen Seufzer gestattete. In dem Moment, in dem sie den Regler losließ, bemerkte sie, dass ihre Hände furchtbar zitterten und verschwitzt waren, obwohl Kate eiskalt war. War sie vielleicht zu früh wieder zur Arbeit gekommen?
Kate schätzte, dass die Albträume, die sie das ganze Wochenende über quälten, nach ihrem Erlebnis unvermeidlich waren. Sie bestanden aus einem dunklen Mosaik von Blut, Tunneln und leblosen, verdrehten Gliedmaßen. Und Kate schrie immerfort, mal stumm, mal laut. Das Schlimmste jedoch waren die Fallträume. Wieder und wieder hatte Kate das Gefühl zu stürzen, gleich einer Marionette, deren Glieder sich beim Aufprall zu einem unordentlichen Haufen inmitten einer Blutlache türmten. Und jedes Mal landete sie so hart, dass sie davon aufwachte. Einmal war es gar kein Sturz gewesen, sondern sie sprang. Im Traum schritt sie oberhalb eines Abgrunds entlang, auf einer schmalen Mauer, und konnte nicht anders, als sich ins tiefe Nichts zu stürzen.
Mit den Albträumen hatte Kate gerechnet, und ihr war klar, dass sie noch eine ganze Weile schlecht träumen würde. Das war nach ihrem Erlebnis vollkommen normal, und auf die Träume hatte sie keinerlei Einfluss. Was sie indes nicht erwartet hatte, war die Angst bei Tage. Das ganze Wochenende hatte sie gezittert wie Espenlaub und furchtbar gefroren. Obwohl sie die Zentralheizung so hoch aufdrehte, wie es irgend ging, und sich ihren wärmsten Pulli überzog, wurde ihr einfach nicht warm. Am Samstag war es dem armen Neil so heiß im Haus geworden, dass er nur noch in T-Shirt und Shorts herumlief. Unterdessen war Kate außerstande gewesen, irgendetwas Sinnvolles zu tun. Außer fernzusehen hatte sie eigentlich gar nichts getan, und selbst das war bisweilen sehr verstörend gewesen. Allein der Anblick von Zügen, jedwede Art von Bahnen, Lärm oder schreiende Menschen genügten, und schon wurde Kates Zittern heftiger, was sie maßlos ärgerte. Sie war wütend auf sich, weil sie nicht besser mit der Sache fertigwurde.
Hinzu kam das Telefon. Freunde, Kollegen und Neils Mum riefen an, lauter nette Menschen, die sich um sie sorgten und über deren Anrufe Kate sich unter anderen Umständen durchaus gefreut hätte. Nicht zu vergessen Neil, der sie mit diesem Dackelblick beäugte, sich permanent um sie kümmern wollte und praktisch minütlich nachschaute, wie es ihr ging, oder ihr Kaffee brachte, den sie gar nicht wollte. Er schien anzunehmen, dass ihre Ehe nun schlagartig wieder intakt war und er fortan zu Hause bleiben würde. Vor
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