Irgendwann Holt Es Dich Ein
irgendetwas passiert war. Deshalb nahm sie das Angebot bereitwillig an, denn zu dem Zeitpunkt passte es hervorragend für sie. Neil und sie hatten schon eine Weile über Kinder nachgedacht, aber keine Möglichkeit gesehen, wie sie eine Familie mit ihren Berufen in Einklang bringen könnten. Folglich schien der neue Job wie ein Geschenk. Kate könnte das Baby um neun Uhr morgens bei einer Tagesmutter abgeben und um zwei wieder abholen, womit ihr noch reichlich Zeit bliebe, die sie mit ihrem Kind verbringen könnte. Das schien ideal.
Nur dass sie nie eine Familie wurden, und nun arbeitete Kate in einem Radiosender, der in den letzten Zügen lag und bei dem sie einen nicht sonderlich befriedigenden Job machte. Sie investierte mehr Zeit und Energie, kam früher und blieb länger, ja, überhaupt tat sie alles, damit ihre Sendung super wurde. Sie wollte unbedingt beweisen - Richard, sich selbst und vielleicht auch Neil -, dass es ein anständiger Job war, einer guten Journalistin würdig. Ja, sie musste sich und allen anderen klarmachen, dass die Sendung eine echte Moderatorin brauchte, keine anonyme Stimme vom Band. Also tat sie ihr Bestes, sich an den Themen interessiert zu geben, über die ihre Zuhörer plaudern wollten, redete über Showbiz und Big Brother, über Schuhe und Shoppen, über alles, was bei den Leuten draußen vor den Radios Resonanz fand.
Fast täglich überlegte Kate, den Krempel hinzuschmeißen. Doch sie blieb. Sie hatte sich mit dem Job arrangiert, und im Grunde wollte sie, dass er funktionierte. Außerdem war sie stur. Sie hasste es, sich eine Niederlage einzugestehen. Und natürlich fragte sie sich auch, welcher andere Radiosender eine faktisch unbekannte Achtunddreißigjährige als Prime-Time-Moderatorin nehmen würde.
Nach ihrer Sendung ging Kate zurück in den Produktionsbereich und setzte sich für eine Weile an ihren Schreibtisch. Sie las ein paar E-Mails und suchte im Internet nach Programmideen. Dann machte sie sich noch einen Kaffee, räumte ihren Schreibtisch auf und beantwortete einige Hörerbriefe. Auf dem anderen Schreibtisch in dem Büro lag ein Stapel Zeitungen, die sie bewusst ignorierte. Sie wollte nichts über Hattie lesen und abermals durchleben müssen, was geschehen war. Es sollte einfach vorbei sein.
Natürlich würde es noch eine Untersuchung geben, die sie durchstehen musste. Man würde gewiss ihre Zeugenaussage verlangen. Das hatte sie in dem Augenblick gewusst, als sie ihre Aussage bei der Bahnpolizei machen musste. Trotzdem wollte Kate im Moment nicht daran denken. Hattie war tot. Sie hatte enorme Probleme gehabt und sich das Leben genommen. Entsetzlich, aber wahr. Kate war rein zufällig gerade dort gewesen. Deshalb hatte Hatties Selbstmord noch lange nichts mit ihr zu tun. Dennoch ließen ihr Hatties Worte keine Ruhe. Wir haben etwas Furchtbares getan. Nein, Kate wollte gar nicht wissen, was Hattie gemeint hatte. Auf keinen Fall würde sie in die Vergangenheit eintauchen und nach einer Erklärung suchen. Am besten dachte sie gar nicht mehr darüber nach.
Hatte sie ihre Gefühle wohl hinreichend unter Kontrolle, um zum italienischen Laden um die Ecke zu gehen und sich ein Sandwich zu holen? Kate fürchtete, jeden Moment in Tränen auszubrechen. Während der Sendung war es ihr gelungen, sich zusammenzunehmen, doch jetzt, nachdem alles überstanden war, fühlte Kate sich total ausgelaugt. Gott sei Dank schienen ihre Kollegen den Wink zu verstehen. Laura, die Studioassistentin und zuständig für die Verkehrsmeldungen, hatte ihr einen Becher Kaffee gebracht, aber ansonsten versuchte kaum jemand, ihr ein Gespräch aufzudrängen.
Kate erschrak. Plötzlich hatte sie bemerkt, dass jemand neben ihrem Schreibtisch stand. Es war eine der Frauen vom Empfang, deren Name Kate gerade nicht einfiel.
»Das hier ist für dich gekommen«, sagte sie und reichte Kate einen großen braunen Umschlag, einen von denen mit verstärktem Rücken, die man benutzte, um Fotos zu verschicken.
Merkwürdig, dachte Kate. Die Post von heute hatte sie bereits durchgesehen, denn die war schon vor Stunden hier gewesen. Kate sah sich den Umschlag genauer an. Vorne drauf stand ihr Name, handgeschrieben, mit blauem Kugelschreiber, in winzig kleiner Schrift. Darüber waren die Worte »Per Boten« gekritzelt. Kate öffnete den Umschlag, griff ein bisschen ängstlich hinein und zog ein einzelnes Blatt hervor. Nein, kein Blatt, sondern einen Ausschnitt aus einer der Gratiszeitungen, die jeden Abend in den
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