Irgendwann Holt Es Dich Ein
sie immer: »Das Mädchen nutzt dich aus. Lass dich von der nicht völlig vereinnahmen.«
Aber ihre Mutter ahnte ja nicht, wie begeistert Kate sich von Hattie ausnutzen ließ, wie klasse sie es fand, Hatties Freundin zu sein und von ihr vereinnahmt zu werden. Hattie war so witzig gewesen, so anstrengend, so unberechenbar und so lebendig. Und nun war sie tot.
Kate ballte ihre Hände zu Fäusten und kämpfte gegen die Tränen an, die ihr in die Augen stiegen, zumal sie hörte, wie jemand zur Tür kam. Sie hatte keinen Grund zu weinen. Immerhin war sie seit zwanzig Jahren nicht mehr mit Hattie befreundet, hatte also gar kein Recht, um sie zu weinen. Und sie musste stark sein, schon um Hatties Mutter willen.
Rosemary Fox hatte Kate bei der Arbeit angerufen und sie gebeten, zu ihr zu kommen. Sie hatte die Zeitungsartikel gelesen und an dem, was über sie geschrieben wurde, Kate wiedererkannt. Wie sie am Telefon sagte, wollte sie mit jemandem reden, der ihre Tochter gerngehabt hatte. Kates erster Gedanke war gewesen, höflich, aber bestimmt abzulehnen. Doch bei Rosemarys vertrauter, melodisch wohlartikulierter Stimme erinnerte Kate sich, wie sehr sie Hatties Mutter früher gemocht hatte. Damals hatte Mrs. Fox alles verkörpert, was Kates eigene schwer arbeitende, bodenständige Mutter nicht war: Mrs. Fox war warmherzig, liebevoll und freundlich, sie verteilte ständig Umarmungen und Wangenküsse und war allzeit bereit, Vertraulichkeiten auszutauschen. »Sag Rosemary zu mir«, hatte sie Kate gleich bei ihrem ersten Besuch in Hatties Zuhause aufgefordert.
Dann hatte es jenen unvergesslichen Abend gegeben, als Kate in Crouch End ankam, nur um zu erfahren, dass Hattie bereits ausgegangen war, zusammen mit Susan oder Serena statt mit ihr. Rosemary hatte Mitleid mit ihr gehabt und Kate eingeladen, zum Abendessen zu bleiben - »nur ein paar Kleinigkeiten, die ich rasch gemacht habe«. Kate hatte eingewilligt, weil es ihr höflich erschien und weil ihr eine so frühe Rückkehr nach Hause viel zu peinlich gewesen wäre. Ihre Mutter hätte zu viele Fragen gestellt oder ihr »Ich hab's dir ja gleich gesagt«-Gesicht aufgesetzt. Also hatten Rosemary und Kate gemeinsam in der Küche gesessen und außergewöhnlich streng schmeckenden Käse und exotische Salate gegessen. Bei dieser Gelegenheit hatte Kate auch den allerersten Möhrenkuchen ihres Lebens gekostet. Derweil hatte sie voller Ehrfurcht den Geschichten gelauscht, die Hatties Mutter aus ihrer Zeit als Schauspielerin erzählte.
Nun stand sie vor der Tür und wurde zunehmend nervös. Sie fragte sich, was genau Rosemary Fox ihr erzählen oder von ihr wissen wollte. Zum millionsten Mal seit dem Geschehnis wünschte Kate sich, sie hätte ihre frühere Freundin nie in jener U-Bahn gesehen.
Rosemary öffnete die Tür und begrüßte Kate mit einer jener herzlichen, theatralischen Umarmungen, wie sie ihr noch so lebhaft im Gedächtnis waren. Sie roch sogar wie früher, nach einem moschusschweren Parfum, das Kate stets zu übertrieben für Rosemarys zarte, blasse Ausstrahlung gefunden hatte. Und bis heute war Rosemary auffallend schön, obgleich sie, wie Kate wusste, an die siebzig sein musste. Sie hatte silbernes Haar, kobaltblaue Augen, makellose Haut und die hübschen, zarten Züge, die Hattie von ihr geerbt hatte. Rosemary tätschelte Kates Hand und führte sie stumm durch den Flur, der mit zusammengewürfelten Antiquitäten und Dekorationsgegenständen vollgestellt war. Manches in dem Durcheinander erkannte Kate wieder: einen angelaufenen Spiegel mit schwerem Bronzerahmen, eine Buddha-Statue, die auf einem Bambustisch hockte. Sie erinnerte sich sogar noch an die Tapete. Das dunkelgrüne Laura-Ashley-Blumenmuster entsprach Mitte der Siebziger den neuesten Mode und war bereits ausgeblichen, als Kate vor über zwanzig Jahren erstmals in dieses Haus kam. Unwillkürlich streckte Kate die Hand aus und berührte die Tapete. Sie war feucht und löste sich ab, was Kate unbeschreiblich traurig stimmte. Wieder kämpfte sie mit den Tränen. Sie wollte selbst kaum glauben, dass die Tapete sie fast zum Heulen brachte.
»Hattie mochte dich so gern.«
Rosemary Fox hatte ihnen beiden sehr dünnen Tee eingeschenkt. Tassen wie Untertassen waren fleckig und staubig, sodass Kate es fast nicht fertigbrachte, die Tasse an ihre Lippen zu heben. Als Teenager hatte sie das leicht schmuddlige Durcheinander in diesem Haus geliebt. Es bildete einen solch aufregenden Kontrast zu ihrem eigenen
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