Irgendwann Holt Es Dich Ein
U-Bahnhöfen verteilt wurden.
»Radiomoderatorin sieht Fernsehfreundin vor U-Bahn springen«, lautete die etwas holprige Titelzeile. Kate blickte auf das Datum. Die Zeitung war von Freitagabend, dem Tag nach Hatties Tod. Sie überflog den Artikel. Der Schreiber benutzte Zitate aus dem Interview, das Kate ihrem eigenen Sender gegeben hatte. Ihre Nachrichtenredaktion hatte sie am Freitagmorgen angerufen. War das wirklich erst drei Tage her? In dem Zeitungsartikel wurde erwähnt, dass beide Frauen die Lady Jane Grey besucht hatten, als würde die Story dadurch spannender oder skandalöser.
Abgesehen von dem Ausschnitt war nichts in dem Umschlag, was Kate seltsam vorkam. Da war kein Begleitschreiben, kein Deckblatt, keine Kurzmitteilung. Allerdings hatte jemand in dem Artikel Kates Namen und den ihrer alten Schule mit einem gelben Textmarker angestrichen, wo immer sie im Text erschienen. Kates Hände begannen zu zittern, und sie wusste nicht recht, wieso.
»Wer hat das abgegeben?«, fragte Kate die Frau vom Empfang, die bereits wieder wegging.
»Irgend so ein Typ«, sagte sie, drehte sich zu Kate um und sah sie gelangweilt an. »Er hat ihn heute Morgen gebracht, als du auf Sendung warst. Er hat gesagt, der ist für dich.«
»Kam er von einem Ausschnittdienst?«
Normalerweise hatten sie eine Agentur, die für den Radiosender die Presse sichtete und ihnen einmal im Monat ein Bündel von Artikeln schickte, in denen der Sender erwähnt wurde. Diese Ausschnitte gingen, soweit Kate wusste, jedoch an die Werbeabteilung, nie direkt an die Moderatoren. Die Empfangssekretärin zuckte nur mit den Schultern und trottete stumm davon.
Mit dem Artikel in der Hand saß Kate da und las ihn noch einmal. Sie war wie benommen, genauso wie heute Morgen, als der Anruf kam, und wieder wusste sie nicht recht, wie sie die Situation einschätzen sollte: War das hier normal oder eher unheimlich? Ihr war schleierhaft, warum ihr jemand kommentarlos diesen Zeitungsausschnitt schickte. Wieder bemerkte sie, wie sehr ihre Hände zitterten, und schaute sich im Büro um. Niemand beobachtete sie. Ohne zu wissen, warum, riss sie den Artikel in winzige Fetzen, stopfte sie in den Umschlag zurück und warf ihn in den Papierkorb.
SECHS
Hatties Mutter wohnte noch in demselben Haus wie früher, einem großen, heruntergelebten, künstlerisch anmutenden viktorianischen Bau in Crouch End. Sogar die Türklingel hörte sich genauso an wie früher: ein getragenes Läuten, das von weit hinten im Haus kam. Während sie wartete, dass Rosemary Fox öffnete, malte Kate die moosüberwucherten Umrisse der Pflastersteine mit der Stiefelspitze nach. Nichts hatte sich verändert, außer dass das Haus noch schäbiger wirkte als früher. Als Kate das Haus zum ersten Mal gesehen hatte, war sie von der Unordnung und dem Staub überall regelrecht schockiert gewesen. Ihr eigenes Zuhause war dagegen geradezu erdrückend sauber, denn für ihre Mutter war Reinlichkeit stets gleichbedeutend mit Anständigkeit. Umso mehr verblüffte Kate, dass Angehörige der kunstbeflissenen Mittelklasse anscheinend stolz auf ihren Schmutz waren.
Als sie nun draußen stand und wartete, dass die Tür aufging, fühlte Kate sich beinahe wieder wie achtzehn, als sei sie gerade erst auf ihrem verlässlichen Gebrauchtfahrrad hergekommen, das sie als Teenager heiß und innig geliebt hatte. Damals schloss sie das Rad immer an den Zaun. Und auch damals hatte sie die Steine mit dem Fuß nachgemalt, bis ihr geöffnet wurde, und sich gefragt, welcher Wirbelwind sie wohl diesmal begrüßen würde. Hattie in Federboa und Satinhandschuhen bis zu den Ellbogen, die plante, uneingeladen zu einer »fabelhaften« Party zu gehen? Oder eine halbbetrunkene Hattie, tränenüberströmt, weil sie gerade Herzen in Aufruhr gelesen hatte? Oder Hattie, die ihr einen Beutel mit irgendetwas in die Hand drückte und sagte: »Pass gut darauf auf. Das brauchen wir später, falls der Abend öde wird.«? Hattie, die sie umarmte, sie hineinbat und ihr versprach, ein opulentes Abendessen zu kochen, dann aber zu viel trank und zu lallen begann, ehe auch nur der erste Gang fertig war. Alle diese Varianten waren denkbar, als sie beide jung waren.
Kate war sich immer bewusst gewesen, dass Hattie ihre Freundschaft bestimmte, dass sie für Hattie jederzeit auf Abruf stand. Und sie wusste auch, dass sie zumeist nicht Hatties erste Wahl war, sondern nur hergebeten wurde, weil Susan und/oder Serena keine Zeit hatten. Kates Mutter warnte
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