Irgendwann ist Schluss
Habe ich das erlebt? Bin ich der Junge, dessen Mutter die Hände aneinanderreibt? Was ist geschehen? Wo sind sie hin, meine Erinnerungen?
Eine Weile hat es gedauert, bis ich verstanden habe: Es ist, als würde ich mir die Erinnerungen ausziehen wie Kleidungsstücke. Im Akt des Erinnerns lege ich Erinnerung um Erinnerung beiseite. Wenn ich mich erinnere, lösche ich gleichzeitig das, woran ich mich erinnere. Es ist eine Befreiung. Ich atme kaum, als mir das klar wird. Stück für Stück bröckelt die Vergangenheit. Ich werde immer weniger der sein, der ich war, ich werde immer mehr der sein, der ich bin. Ich schleppe die Zentnersäcke des Gelebten aus meinem Kopf und fühle mich ungemein leicht. Aber es ist noch so viel da! Wie lange wird es dauern, bis ich alle Erinnerungen abgetragen habe? Wie lange wird es dauern, bis ich nur noch hier und jetzt bin?
Weder Kuttner noch Wischnewski noch Gonzales noch der Zwerg haben sich gezeigt. Wochenlang, monatelang, ich weiß nicht, wie lange. Keine Drohgebärden vor der Kamera, kein Huschen durchs Bild, keine vergifteten Fleischstücke, die über die Mauer fliegen, nichts. Je länger sie fortbleiben, umso beunruhigter bin ich. Mit jedem Tag, den sie fernbleiben, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie plötzlich wieder auftauchen. Und zwar dann, wenn ich nicht damit rechne. Sie hecken etwas aus. Ich spüre es. Sie lauern dort im Dunkeln und planen den großen Übergriff. Ich weiß es. Da draußen, ihre Anwesenheit, ich kann sie spüren. Ich wappne mich. Meine Wahrnehmungs-, meine Aufnahmefähigkeit wächst von Tag zu Tag. Ich verlasse meinen Posten nicht mehr oft. Inzwischen habe ich gelernt, die Monitore gleichzeitig im Auge zu behalten. Mehr noch, ich habe gelernt, die Gegenwart mit der Vergangenheit zu koppeln. Während ich mit einem Auge beobachte, was sich gerade abspielt, jetzt, hier, in der Gegenwart, draußen, vorm Tor, sehe ich mir zugleich an, was in der gestrigen Nacht geschehen ist. In vierfacher Geschwindigkeit spule ich die Aufnahmen voran.
Ich sehe mir selbst beim Leben zu. Ich lebe nicht viel, nicht oft, alles, was ich tue, beschränkt sich auf das Einhalten der täglichen Routine, also essen, schlafen, baden, zur Toilette gehen, manchmal einfach nur still daliegen und an die Decke starren. Nur dienstags muss ich mich aufraffen, wenn Marc Antonius mir Lebensmittel bringt. Ich sehe mir zu, wie ich in der Badewanne liege und die Augen schließe und über irgendwas nachdenke, und ich sehe, wie ich die Badewanne verlasse und mich abtrockne und eine Zeitlang vor dem Spiegel stehe und mir die Haare aus der Stirn streiche, die Haare, die lang geworden sind, denke ich plötzlich, sowohl jetzt, während ich mich sehe, als auch gestern, während ich dort stehe, und ich nehme gestern eine Schere, eine Nagelschere und schneide mir gestern die Haare, vorne und hinten, so gut es geht, es ist egal, wie ich aussehe, mir wird ohnehin niemand mehr begegnen in diesem Leben. Ich sehe mir zu, wie ich die Haare gestern einsammle und in die Toilettenschüssel werfe und abziehe und mich ärgere, weil die Haare nicht alle hinabgesaugt werden vom Strudel, und ich spüle nochmals, bis auch das letzte Haar verschwunden ist. Dann verlasse ich das Bad, und ich muss, will ich mich weiter beobachten, die DVD wechseln, und ich sehe mich, wie ich nackt auf der Matratze liege, die Hände unterm Kopf verschränkt, und einfach nichts tue, und als ich mich so nichtstuend sehe, verfluche ich mich, weil ich denke, dass Nichtstun gefährlich sein kann in der Situation, in der ich mich befinde, Nichtstun kann bedeuten, den einen entscheidenden Moment zu verpassen, an dem ich da sein muss, den Moment des nächsten Angriffs, und das scheine ich auch gestern gedacht zu haben, als ich dort nackt auf dem Bett liege, denn ich sehe, wie ich gestern plötzlich aufspringe und mich rasch anziehe und zurück in den Überwachungsraum gehe. Ich schaue mir die Aufnahmen der Kamera an, die den Überwachungsraum überwacht, und ich sehe mich selbst, wie ich auf meinem Platz sitze und in die Monitore blicke. Ich sehe meinen Augen zu, wie sie hin- und herzucken, ich sehe den Händen zu, die übers Kontrollpult gleiten, um diese oder jene Kamera zu bedienen, dieses oder jenes Bild heranzuzoomen, diese oder jene Aufnahme schneller oder langsamer vorzuspulen, ich sehe mir, wenn ich mich beim Überwachen betrachte, gern in Zeitlupe zu, um zu sehen, wer ich wirklich bin, wenn ich dort sitze, und was ich sehe, beruhigt
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