Irgendwann ist Schluss
Ja aus dem Sprechanlagengitter ertönte, und weil er nicht wusste, was er sagen sollte, rief er nur das eine Wort: Paketpost.
Bischoff gegen BRD
Ü ber ihn gibt’s nichts zu sagen. Er ist ein gewöhnlicher Mensch. Er kann ganz gut leben. Er weiß genau, wie das geht. Er ist in der Lage, einzukaufen. Er kann sich ein Essen kochen. Er trinkt viel stilles Wasser, weil es in den Fernsehsendungen empfohlen wird. Er muss wie jeder Mann seines Alters nachts aufstehen. Er seufzt, wenn sein Strahl ins Toilettenwasser zirpt. Er putzt sich täglich zweimal die Zähne und ist stolz, dass er noch welche hat. Zahnseide lehnt er kategorisch ab. Er sieht gern fern. Er raucht nicht. Er versucht, vernünftig zu sein. Er geht nicht mehr allzu oft aus dem Haus. Nur montags in den Hirschen . Einmal im Monat schneidet er sich die Fußnägel. Er hat Angst davor, dass seine Schuhriemen reißen, wenn er zu fest an ihnen zieht. Eine Glatze hat er schon lange. Wenn er das Haus verlässt, trägt er einen Hut. Er putzt nicht mehr selber, sondern leistet sich eine Putzfrau. Die Putzfrau kommt jeden Samstag. Er gehört keiner radikalen Organisation an und würde sich als maßvoll bezeichnen. Er schwört auf Hosenträger. Seine Frau hat er schon früh ins Grab gebracht. Mit damals fünfzig. Er ist immer noch circa einsdreiundsiebzig groß, obwohl es heißt, dass man im Alter schrumpft. Bislang ist er von schweren Krankheiten verschont geblieben. Trotzdem hat er ein Seminar besucht mit dem Titel: Dem eigenen Ende bewusst begegnen. Dort saßen Menschen, die oft die Augen geschlossen hielten, während er, Karl Bischoff, sie heimlich, zwischen den Wimpern hindurch, beobachtete. Sie atmeten tief und fest, die Hände auf den Oberschenkeln. Wir stellen uns vor: So begannen die Sätze der Leiterin. Karl weiß jetzt, dass er keine Angst haben muss. Trotzdem liegt er manchmal wach, nachts, im Bett, oder er fährt hoch, aus dem Schlaf, und ihm ist ganz flau, weil er das Gefühl hat, es wäre fast so weit gewesen. Dann kann er nicht mehr schlafen, setzt sich in die Küche und lauscht dem Ticken der Uhr. Dabei isst er Schokolade. Das gönnt er sich sonst fast nie. Nur in solchen Nächten, in denen alles dunkel ist und bitter. Karl Bischoff ist ein gewöhnlicher Mensch. Er hat zwei Kinder großgezogen. Ruben und Nina. Weshalb Karl getan hat, was er getan hat, liegt nicht an ihm. Es liegt an seinem Sohn. Es liegt an Ruben.
Der 18. März 2007: ein Sonntag. Ruben war zu Besuch. Seit fünf Jahren lebt er in Amerika. Dem größten Feind direkt ins Auge sehen. Ruben, der Revolutionär. Attac-Mitglied, Globalisierungsgegner, Antikapitalist. Er hatte schon immer Trends gesetzt. Wenn er die Haare lang trug oder sich Dreadlocks drehen ließ, wenn er in zerrissenen Jeans in die Schule kam, mit Skimütze oder Baseballkappe, wenn er barfuß ging – es gab in allem Nachahmer, die seinem Vorbild folgten. Ruben Bischoff rebellierte, wo immer es ging, las früh schon Marx und Lenin, hörte Buzzcocks, The Clash, Dead Kennedys, Ton Steine Scherben, ging mit seinen Freunden die Fußgängerzone entlang und beschallte die Leute mit Megaphonen, sie lasen die Preise der Auslagen vor, nur die Preise, sonst nichts. Ruben war nicht zu bremsen in dem, was er tat. Er entwickelte mit der Zeit einen missionarischen Eifer. Sein Wunsch war es, möglichst viele Leute von seinen Ideen zu überzeugen. Er beeindruckte seine Zuhörer mit der geballten Kraft einer Jello-Biafra-Rhetorik. Er machte ihnen klar, dass sie sich in ihrer Trägheit das Leben von den Mächtigen dieser Welt aus der Hand hatten nehmen lassen, dass es um nichts anderes gehe als darum, dieses Leben wieder zurückzugewinnen, die Ursprünglichkeit der Entscheidung, die Gerechtigkeit der Verteilung, die Freiheit des Proletariats.
»Du hättest dich engagieren können«, sagte Ruben seinem Vater. Nicht erst an diesem Abend sagte er das. Nicht erst am 18. März. Es war sein unablässiger Vorwurf. »Du hast dich dein Leben lang nur um dich selbst gekümmert«, sagte Ruben.
»Und um die Familie«, sagte Karl.
»So meine ich das nicht«, sagte Ruben. »Engagement«, sagte er, »politisches Engagement. Es ist nie zu spät.«
»Ja, was?«, fragte Karl Bischoff. »Ich bin siebzig Jahre alt, ich hab mein Leben gelebt. Und außerdem: Was kann man als Einzelner schon tun?«
Ruben schaute ihn lange an und schüttelte schließlich den Kopf. Dieser Blick, dachte Karl, dieser Blick. Nicht mich hat er besucht, dachte Karl, sondern seine
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