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Irgendwann ist Schluss

Irgendwann ist Schluss

Titel: Irgendwann ist Schluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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ernst, weil sie sich noch alle ganz genau an die wirkliche Luftbrücke erinnern konnten. Sofort kam eine Kriegsgeschichte, und zwar vom Überkinger Ludwig, der schon mit dreizehn Jahren zu rauchen angefangen hatte, indem er die weggeworfenen Kippen der GI s vom Boden aufklaubte. Jede Kriegsgeschichte vom Überkinger Ludwig endet damit, dass er von seinem älteren Bruder erzählt, dem Überkinger Willi. Der hat eine dreistellige Nummer im Parteibuch gehabt, ist in der Waffen- SS gewesen und hat nur durch Zufall die russische Kriegsgefangenschaft überlebt. Alle Mitglieder der Waffen- SS wurden von den Russen auf der Stelle erschossen, aber die Russen hatten beim Überkinger Willi einfach die Tätowierung übersehen, die bei jedem Waffen- SS -Mann auf der Innenseite des Oberarms die Blutgruppe verzeichnete. Jahrelang Front, dann Kriegsgefangenschaft, dann Befreiung. Als der Willi wieder hier gewesen ist, in Deutschland, hat er bei jedem Spaziergang die komplette Gegend mit einem taktischen Raster überziehen müssen. Der Willi hat gesagt: Da drüben könnte man einen Hinterhalt legen! Wenn der Feind kommt, hat er gesagt, müsste dort das Panzerbataillon stehen! Er hat dabei wild mit den Armen gefuchtelt, hat auf imaginäre Lagepläne verwiesen, hat seine Hand an die Stirn gehalten, in alle Richtungen geschaut und sich geduckt, wenn ihn ein Geräusch erschreckte.
    Plötzlich, wohl nur, um den Überkinger zu unterbrechen, denn die Männer kannten die Kriegsgeschichten zur Genüge, ergriff Frommer das Wort: »Wenn ich was zu sagen hätt, dann würd ich die verklagen!«
    »Wen?«, fragte Hayer.
    Und Frommer erwiderte: »Deutschland.«
    »Was?«
    »Wenn ich was zu sagen hätt, dann würd ich die verklagen. Wegen Steuerveruntreuung.« Das war ein monströses Wort, die Männer nickten und blieben stumm. »Eine Brücke bauen ohne Straße!«, rief Frommer. »Mit dem Geld, für das wir geschuftet haben! Das nenn ich Steuerveruntreuung!«
    »Aha«, sagte Überkinger, der eine neue Runde bestellte, weil er das Thema wieder auf den Krieg lenken wollte, über den er noch nicht genug erzählt hatte. Dieser Kradfahrer damals, der zu ihnen nach Hause gekommen war, knatternd und Staub aufwirbelnd, in knautschendes Leder gekleidet, frisch und frohen Mutes. Und der gesagt hatte: Hier, seine Brieftasche. Das waren die Worte. Und in der Brieftasche des Vaters war ein Loch gewesen, und die Ränder des Lochs waren trockenblutig gewesen, und die Papiere im Innern waren ebenfalls durchschossen gewesen, sein Pass, sein Schein, und der Kradfahrer hatte noch eine Urkunde ausgehändigt, auf der gestanden hatte, er, der Vater, Hermann Überkinger, sei an der Front gefallen, er sei den Heldentod gestorben, und zwar für Führer, Volk und Vaterland. Seit diesem Augenblick hat Ludwig das Wort Vaterland nicht mehr aussprechen können.
    In der Nacht lag Karl Bischoff wach. Ruben hatte bis jetzt nicht angerufen. Obwohl Karl ihn gebeten hatte, es zu tun. Und dann klingelte doch noch das Telefon. Karl sprang sofort auf.
    »Tut mir leid, es ging nicht früher«, sagte Ruben. »Was ist los? Hast du geschlafen?«
    »Es ist zwei Uhr.«
    »Morgens? Hier ist es taghell. Da hab ich wohl die Zeit verkehrt herum berechnet.«
    »Das macht doch nichts«, sagte Karl.
    Ruben legte bald auf.
    Karl ging nicht wieder ins Bett.
    Er setzte sich an den Küchentisch. Er dachte: Vielleicht ist es gut, die Zeit verkehrt herum zu berechnen. Vielleicht ist es gut, zu tun, was man längst hätte tun müssen. Wenn er das nächste Mal kommt, mein Sohn, dann werde ich nicht mehr vorm Fernseher sitzen. Wenn er wiederkommt, mein Sohn, dann werde ich etwas getan haben, dann wird er nicht mehr so einen Blick auf mich werfen können, wie er ihn am Sonntag auf mich geworfen hat. Wenn er wiederkommt, dann wird er keine Halmafigur mehr auf die Waage stellen können, dann werde ich diese Halmafigur sein, die sich gegen das Kilo auf der anderen Seite stemmt. Dann wird er einen anderen Menschen sehen, dann wird er seinen alten Vater lange in die Arme schließen und sagen: Papa, ich bin stolz auf dich. Karl Bischoff riss das oberste Blatt seines Notizblocks ab und zerknüllte es. Auf das nächste schrieb er drei Worte. Es war seine Gewohnheit, alles aufzuschreiben, was er am nächsten Tag erledigen wollte: Zeitung zahlen, Brot kaufen, Spaziergang machen, Katharina anrufen wegen Geburtstag, Fußball gucken oder Unkraut jäten. Jetzt schrieb er auf den Zettel: Klage gegen BRD .
    Karl Bischoff wurde

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