Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Irgendwann ist Schluss

Irgendwann ist Schluss

Titel: Irgendwann ist Schluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
Vom Netzwerk:
Schwester Nina. Bei mir hat er nur anstandshalber vorbeigeschaut. Weil ich zufällig sein Vater bin.
    Wie immer spielten sie Halma.
    Bis zur Rente hatte Karl Bischoff für Waagenbau Scherper & Co. gearbeitet, und auf dem Wohnzimmertisch, gleich neben dem Halmabrett, stand das geliebte Geschenk, das man ihm zur Pensionierung gemacht hatte: eine alte Mehlwaage. Die ihm zugewandte Seite der Wiegefläche wurde von einem Kilogewicht nach unten gedrückt, während die andere Seite leer in die Höhe ragte. Irgendwann sah Ruben auf die Uhr, sagte, er müsse los jetzt, Karl nickte, Ruben nahm eine Halmafigur und stellte sie auf die leere Fläche der Waage. Nichts geschah. Nichts bewegte, nichts veränderte sich. Ruben stand auf. Karl Bischoff aber starrte nur auf die Halmafigur.
    »Was ist?«, fragte Ruben.
    »Nichts«, sagte Karl Bischoff. Und hatte das Gefühl, dass er zum ersten Mal verstand, was Ruben ihm sagen wollte.
    Karl brachte seinen Sohn zum Bahnhof, obwohl Ruben sich gesträubt hatte. Der Bahnhof lag in Kälte. Ruben trat von einem Bein aufs andere. Er blies sich in die Hände. Karl Bischoff dachte daran, dass er nach dem Abschied von seinem Sohn wieder zurückfahren würde. Zu seiner alten Schwester, zu Alma, die im selben Haus wohnte wie er. Im Stock über ihm. Die ihre Wohnung nicht mehr verließ, nicht mehr verlassen konnte. Hier stand Karl, am Bahnhof, sah zu seinem Sohn und hoffte: Vielleicht hat der Zug Verspätung. Oder er fällt komplett aus. Aber der Zug kam überpünktlich. Wenn Ruben jetzt einsteigt, dachte Karl, ist er fort. Dann kann ich nicht mehr mit ihm reden.
    »Ich bring dich noch in den Zug«, sagte Karl.
    »Nicht nötig«, antwortete Ruben.
    »Ich fahre mit!«
    »Jetzt sei nicht verrückt.«
    »Nur bis Frankfurt.«
    »Ach was«, sagte Ruben. »Vater. Was ist denn los mit dir?«
    Die Umarmung war rasch vorüber, sie lag jetzt dort, neben ihnen, ein zerknülltes Papier auf dem Bahnsteig. Ruben nahm den Rucksack, ein letztes Mal hörte Karl die Stimme seines Sohns: »Ich wink dir vom Fenster.« Er winkt mir, dachte Karl. Er winkt mir. Dann setzte sich der Zug in Bewegung, einmal noch werd ich ihn sehen, dachte Karl, immerhin, einmal noch, am Fenster. Aber die Fenster des ICE waren schwarz getönt, wie verspiegelt, sie ließen den Blick nicht durch. Statt Ruben sah Karl Bischoff nur einen alten Mann, der am Gleis stand und sich selbst zuwinkte, mit frisch gebügeltem Taschentuch.
    Am nächsten Tag ging Karl in den Hirschen . Wie jeden Montag. Dort sitzen immer dieselben Männer. Hayer, Dorngartner, Überkinger und Frommer. Im Gegensatz zu Karl reden sie viel. Karl nicht. Karl sitzt oft einfach nur da und schweigt. Manchmal hört er überhaupt nicht richtig zu. Dann stößt ihm jemand kräftig gegen den Arm und sagt, Mensch, was ist denn mit dir los, Karle? Karl sagt dann: Nichts, nichts. Zuhause reibt er sich den Arm. Er kriegt leicht blaue Flecken. Auch am 19. März saß Karl Bischoff still dort und dachte nach über den Blick seines Sohns. Dieser Blick war nicht abzuschütteln. Es war ein kalter Blick gewesen. Ein Blick, der sagte: Ich hab nichts übrig für dich. Ein Blick, der sagte: So einen Vater habe ich also. Ein verachtender Blick.
    Karl musste sich ablenken, dort, im Hirschen , am Tag danach, er beobachtete die Gesichter der anderen, die Stickdeckchen auf dem Tisch, das Geweih an der Wand, den abnehmenden Mond der Getränke. Dann zwang er sich, den Männern zuzuhören. Dorngartner sprach von einem Atomkraftwerk. »Das habe ich neulich gelesen«, sagte er. »Vor zwanzig Jahren hat man es gebaut, bei Koblenz. Nach kurzem Probebetrieb musste man es wieder abschalten. Es stand auf vulkanischem Boden. Eine permanente Erdbebengefahr! Als ob man das nicht vorher hätte wissen können!«, rief Dorngartner. »Man hat das Kraftwerk aber nicht einfach so abreißen können, es ist ja schon in Betrieb gewesen, also komplett verstrahlt. Und steht jetzt einfach so da. Unsere Gelder! Unsere Steuern! Das Kraftwerk wird immer noch rückgebaut! Was das kostet! Oder diese Brücke«, rief Dorngartner. »Da hat man eine Brücke hochgezogen. Irgendwo in Brandenburg. Aber das Geld hat nicht mehr gereicht für die zur Brücke passende Straße. Also steht da jetzt eine Brücke, die von Nirgendwo nach Nirgendwo führt, ohne Sinn.«
    »Das gibt’s doch nicht!«
    »Eine Brücke ohne Straße?«
    »Jaja, wenn ich’s doch sage!«
    »Eine Luftbrücke!«, rief der Überkinger, und alle lachten.
    Dann wurden die Männer

Weitere Kostenlose Bücher