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Irgendwann ist Schluss

Irgendwann ist Schluss

Titel: Irgendwann ist Schluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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dem Titel zugegen.doc von 21756 Seiten. Die Ermittler verstanden kein Wort. Deshalb brauchten sie uns, die Denker.
    Wir kamen und lasen den Anfang der Aufzeichnungen. Der Stil unerträglich, geradezu sprunghaft. Löwes Gedanken fraßen sich gegenseitig. Jeder Satz endete im Nirgendwo oder an einem Punkt, der dem Ausgangspunkt entgegengesetzt lag. Schon das Wort Satz führt in die Irre. Keine Sätze waren das, eher Fetzen, Bruchstücke, und doch verbreiteten sie den Duft eines Sinns, der uns weiterlesen ließ. Oder aber das Wort Satz stimmt im wahrsten Sinne des Wortes, wenn man Satz als Sprung versteht wie die Sätze eines Tigers. Hatten wir als Studenten über Hegel gestöhnt, über Kants endlose Gedankenkaskaden, über Heideggers kryptische Spätphilosophie, so war das alles jämmerliche Sextanerprosa im Vergleich zu Kurt Löwes Aufzeichnungen. Wie unter Tage mussten wir arbeiten und aus dem Text Steine brechen, in mühevoller Denkarbeit, um auch nur annähernd etwas zu verstehen. Überhaupt schien uns, als strebe Löwe danach, jedes Ordnungsprinzip auszuhebeln, alles Bekannte auszumerzen, jede Sprach- und Denk-Eingefahrenheit ab- und aufzubrechen, alles Gewohnte zu vernichten. Wir halfen uns gegenseitig. Wir führten Buch, bekritzelten Karteikärtchen und versuchten, Licht zu bringen in die Datei mit dem Namen zugegen.doc . Noch ergab sich kein roter Faden. Aber je mehr wir uns mit Löwe beschäftigten, umso mehr wollten wir ihn verstehen.
    Unterdessen nahmen die Ermittler Kontakt zu den Verfassern der siebenundsechzig Dissertationen auf, die sich auf Löwes Schreibtisch in sechs Haufen stapelten, denn auf den Deckblättern der gebundenen Dissertationen fanden sich Namen und Adressen der Verfasser, der angeblichen Verfasser, wie wir jetzt mit Sicherheit wissen, der Doktoren also, die sich mit fremdem Ruhm geschmückt haben. Die meisten von ihnen leugneten zunächst ihre Beziehung zu Löwe, schließlich aber klopften die Ermittler sie weich, indem sie ihnen vor Augen führten, wie wichtig es sei, Informationen über Kurt Löwe zu sammeln, weil dieser im Verdacht stehe, eine Serie von Giftmorden begangen zu haben. Und so gestanden die Doktoren schließlich: Nicht sie hatten die Dissertationen verfasst, sondern Kurt Löwe. Ungeheuerlich. Siebenundsechzig Dissertationen. Leider hatte keiner der Doktoren Löwe je gesehen. Alles war anonym und diskret vor sich gegangen, über E-Mails und Postfach. Aber aus der beschlagnahmten E-Mail-Korrespondenz erhellten sich einige Dinge für uns.
    Löwe scheint nie ein Universitätsstudium absolviert zu haben. Einmal fanden wir Löwes Bemerkung, dass er die Universitäten hasse, die »menschlichen Schneckenhirne, die Trägheit des Denkens, die krude Wissenschaftshörigkeit«. Trotzdem halfen ihm gerade die Universitäten dabei, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Wir rekonstruierten aus den Aussagen der falschen Doktoren und aus Löwes E-Mails, dass alles recht harmlos begonnen haben muss. Löwe wusste, dass er über gewisse Fähigkeiten verfügte, nicht nur eine rasche Auffassungsgabe, sondern auch das schnelle Schreiben und Formulieren, und so pinnte er als junger Mann den Aushang ans Schwarze Brett einer Universität: »Biete Hilfe bei Dissertationen, Tippen, Formulieren, Korrektur, Lektorat.« Zunächst lief es schleppend. Jemand schickte Löwe ein Konvolut von Notizzetteln. Löwe tippte alles ein und formulierte es dabei aus. Der Kunde war zufrieden. Wenig später erreichte Löwe der verzweifelte Anruf eines weiteren Doktoranden: unfertige Dissertation, Abgabetermin, Hoffnung auf Anregungen. Der Doktorand wunderte sich, als er ein paar Tage später schon das fertige Projekt weitaus präziser zurückerhielt, als er es je selber hätte beenden können. Die Zahl der Löwe-Kunden wuchs aber erst, als Löwe durch Deutschland reiste und seinen Aushang an die Schwarzen Bretter aller möglichen Universitäten heftete. Löwe benötigte – wenn wir die Hinweise richtig gedeutet haben – etwa drei Wochen pro Dissertation. Denn als er seinem dritten Kunden, einem gewissen Konrad Metzler – die einzige unveröffentlicht gebliebene Arbeit, gleichwohl fand sich das Manuskript auf Löwes Schreibtisch und auf dem Manuskript Metzlers Name –, nach drei Wochen schon die fertige Dissertation zuschickte, antwortete Metzler, es sei völlig unmöglich, in drei Wochen eine Doktorarbeit von dreihundert Seiten zu verfassen, das übersteige jedes menschliche Vermögen, die Dissertation sei folglich

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