Irgendwann ist Schluss
Nachmittage im Zeitungsarchiv und kontrollierte sich selbst. Der 6.2.1980? Ein Mittwoch. Der 8.9.1978? Ein Freitag. Auch für die Zeit vor ihrer Geburt waren die Wochentage in ihrem Kopf genau katalogisiert. Sie musste nicht nachrechnen, sie wusste ganz einfach, dass der 6.5.1965 ein Donnerstag gewesen war. Ein sudden savant , lautete die Erklärung, ein Mensch, der nach einem Unfall plötzlich eine Sache ganz besonders gut kann, Kneten, Musik, Rechnen oder in Barbates Fall das calender calculating .
Ich selbst gab nicht auf in dem Bestreben, mir Barbate aus dem Kopf zu schlagen. Ich verliebte mich in andere Frauen. Ich schlief mit ihnen. Zuletzt mit zwei Frauen aus dem Container. Was bleibt uns übrig: Wir sind im Container, wir existieren im Container, wir schreiben, denken im Container, wir leben im Container, und am Abend, wenn wir den Container verlassen, essen wir gemeinsam, leben den Resttag zusammen, da bleibt es nicht aus, dass ab und zu einmal einer mit dem anderen auch die Nacht verbringt, ganz zwanglos, sagen wir, Nähe, Körper, Saft, das ist alles, das reicht uns, wir wollen nicht enden wie die zahllosen Verliebten in unserer Serie, wir wollen nicht falsche Echtheit, wir wollen echte Falschheit, eine wohldosierte. Bei meinen Beziehungen oder Affären hatte ich nicht nur meinen Körper an einen anderen Körper gerieben, sondern immer versucht, ein Stückchen Barbate abzuwetzen. Aber es war mir nicht gelungen. Auch nicht, als ich endlich, vor fünf Jahren, Barbates Papiere einfach verbrannt hatte. Denn spätestens jetzt zeigte mir die Tatsache, dass ich sie wie ein jämmerlicher Detektiv verfolgte: Ich hatte noch lange nicht mit ihr abgeschlossen. Mehr noch, ich wollte gar nicht mit ihr abschließen, im Gegenteil, ich wollte noch einmal neu mit ihr anfangen. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich musste es einfach versuchen.
Ich verbrachte den nächsten Tag wie gelähmt. Ich saß nur in meinem Hotelzimmer. Wusste noch nicht, wie es mir gelingen würde, Barbate neu kennenzulernen. Abends stellte ich den Fernseher an, und unsere Soap lief bereits. Die bekannten Gesichter. Die Dialoge. »Du darfst die Firma nicht verkaufen. Es ist dein Lebenswerk. Wenn du sie jetzt verkaufst, wirst du es ewig bereuen.« – »Bist du wirklich sicher, dass er den Brief mit der Bewerbung zerrissen hat? Er wusste doch, wie sehr du dir wünschst, nach New York zu gehen!« – »Ich bin nicht anders als mein Vater. Ich bin genauso ein Schwein. Ich habe Karla entführt und hätte sie beinah erschossen!« Mich überflutete ein Gefühl von Heimat, ich schüttelte mich vor Wärme, so, wie man sich sonst nur vor Kälte schüttelt. Und plötzlich wusste ich genau, wie es mir würde gelingen können, Barbate Limbo noch einmal kennenzulernen.
Als ich ihren Namen auf dem Klingelschild las, zerstreuten sich meine letzten Zweifel. Sie nannte sich Barbara Müller. Der Nachname erklärte sich von allein: Sie hatte geheiratet und war jetzt geschieden. Kein Mann und keine Kinder weit und breit. Aber der Vorname verriet sie: Gewiss, sie hatte ihn ändern lassen. Sie hatte dem Schmerz aus dem Weg gehen wollen, der sie jedes Mal überfiel, wenn sie ihren Namen nennen musste, denn jedes Mal, wenn sie ihren Namen nannte, musste sie an das Dorf Barbate denken, an den Tod ihrer Eltern. Und sie wird zum Standesamt gegangen sein, um diesen Namen zu ändern, Barbate, wird sie als Begründung gesagt haben, komme aus dem Lateinischen und heiße Oh, Bärtiger! Wenn das kein Grund sei. Aber ganz hat sie sich nicht trennen können von ihren Wurzeln, und Barbara war mehr als ein Kompromiss. Eine kleine Änderung, die sie ihr Leben ertragen ließ.
Zunächst beschattete ich Barbara Müller. Unbemerkt fuhr und schlich ich ihr hinterher, um herauszufinden, wie sie lebte und ob sie allein lebte, ja, sie lebte allein, aber vor allem interessierte mich, wann genau sie was tat, wie ihre tägliche Routine aussah, welche Wege sie zurücklegte, und da dies alles so unauffällig wie möglich geschehen sollte, hatte ich schon nach einer Nacht das Hotel verlassen und mir eine andere Bleibe gesucht, denn Barbate sollte mich erst wieder sehen, wenn der rechte Zeitpunkt dafür gekommen war. Ihr Leben verlief gleichförmig: Sie verließ am Morgen das Hotel, fuhr nach Hause, Rollläden gingen runter, sie schlief, und gegen zwei Uhr stand sie auf, frühstückte, erledigte Dinge im Haus, manchmal auch draußen, Einkäufe, sie zwang sich dazu, zweimal die Woche zu joggen, ein
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