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Irgendwann ist Schluss

Irgendwann ist Schluss

Titel: Irgendwann ist Schluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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wenn man nebeneinanderliegt, und sie log mich nicht an, nein, sie glaubte mit Haut und Haar an das, was sie mir auftischte, und ich verzieh ihr sofort, sie hatte sich eine neue Kindheit zugelegt, gewöhnlich aufgewachsen, in der Nähe, in einem Kaff, natürlich Einzelkind, ihre Eltern lebten nicht mehr, es gab also niemanden, der ihre Behauptungen hätte bestätigen können. Ich nickte zu allem und dachte, dass sie sich eine neue Kindheit gestrickt hatte, weil die alte verloren gegangen war und kein Mensch ohne Erinnerung an eine Kindheit, und sei es eine erfundene, existieren kann. Doch obwohl ich ihr Verhalten verstehen konnte, war dieser Tag der erste Tag unserer Beziehung, an dem ich ein wenig verstimmt war. Um ihr meinen Ärger zu demonstrieren, sagte ich ihr, ich stünde auf schwarze Haare. »Was meinst du?«, fragte sie zurück. – »Deine Frisur«, sagte ich. »Würdest du mir einen Gefallen tun?« – »Alles, was du willst«, sagte sie.
    Wir gingen am nächsten Tag zum Friseur. Ich hatte eine Augenbinde besorgt, die ich Barbara überzog, und sagte der Friseuse heimlich, was sie tun solle. Als dann, nach einer geschlagenen Stunde, Barbara die Augenbinde entfernt wurde, gab es ein kurzes Schluchzen, doch als Barbara sah, wie sehr ich strahlte, stand sie auf, nahm mich in den Arm und sagte, dass sie das für mich getan hätte, und es dauerte ein paar Tage, ehe sie sich an ihren kurzen schwarzen Stoppelschnitt gewöhnt hatte und nicht mehr alle paar Minuten vor dem Spiegel stehen musste, um zu kontrollieren, ob sie wirklich noch sie selbst war. Weniger Schwierigkeiten hatte ich in den nächsten Wochen damit, ihre Figur zu ändern, ich sagte ihr, wir seien nicht mehr jung, wir müssten auf unsere Gesundheit achten, und sie nickte sofort, das leuchtete ihr ein, ohne Weiteres, und sie ließ sich von mir zum Joggen schleppen, jeden Tag, allein wäre sie nie mehr durch den Wald gelaufen, mit mir aber, ihrem Retter, kam sie nun täglich an der Stelle vorbei, an der ich sie gerettet hatte, immer denselben Weg, immer dieselbe Stelle, ich dachte, das ist wichtig, damit sie sich täglich an das erinnert, was ich für sie getan habe. Wir hielten strenge Diät, und am Abend machten wir Liegestütze und Sit-ups, gemeinsam, und innerhalb kürzester Zeit hatte sie zwanzig Pfund verloren, näherte sich der Figur, die sie einst gehabt hatte, sagte, wie dankbar sie mir dafür sei. Allein, sagte sie, hätte sie das niemals geschafft. Ich hatte Blut geleckt und konnte nicht aufhören, ich sagte ihr, dass mir das Verrückte an ihr fehle, das Spontane, das Freie, und sie gab sich alle Mühe, mich immer mehr zu überraschen, und wenn es denn möglich gewesen wäre, so hätte ich sie für das, was sie tat, noch mehr geliebt. Nur redete sie mir zu viel. Was Barbate damals, nach dem Sturz auf den Kopf, zu wenig geredet hatte, redete mir Barbara jetzt zu viel. Gewiss, ich war froh, dass sie aus ihrem Schweigen herausgefunden hatte, aber dass sie nun statt gar nichts mehr zu sagen, pausenlos plapperte, störte mich gewaltig. Was zu viel ist, ist zu viel, dachte ich, und so, wie sie mich damals mit ihrem Schweigen verletzte, verletzte sie mich nun mit ihrem Reden. Daher unterbrach ich sie plötzlich und fragte unumwunden nach ihrer Nase. »Wieso Nase?«, fragte sie zurück, und es kostete mich meine ganze Überredungskunst, sie zu bewegen, sich operieren zu lassen. Ich war da, als sie aus der Narkose erwachte, ich hielt ihre Hand, ich streichelte sie, mein Gott, sagte ich, aber sie lächelte nicht mehr, sie hatte einen merkwürdigen Gesichtsausdruck, und ich wusste, dass ich kurz davor war, alles kaputt zu machen.
    Aber ich konnte nicht aufhören. Ich musste weitermachen. Ich musste sie endlich dazu bringen, sich wieder daran zu erinnern, wer sie wirklich gewesen war, ich musste ihre Amnesie kurieren. Ich nahm buchstäblich ein paar Tage Anlauf, und eines Abends stellte ich sie zur Rede. Ich sagte, dass ich sie kennen würde. Sie sah mich verwundert an. »Natürlich kennst du mich«, sagte sie. »Nicht so, wie du denkst«, sagte ich, »wir sind jetzt lange genug zusammen für die Wahrheit.« Sie verstand mich nicht. Auch nicht, als ich vom See erzählte, vom Kuss, vom Sturz, vom Krankenhaus, vom Schauinsland. »Nein«, sagte sie, und ihre Augen wurden wässrig, »nein«, sagte sie immer wieder, »bitte nicht«. Ich ließ mich nicht beirren. »Du weißt es doch«, rief ich, »du musst dich dem stellen. Ich spüre, dass du es weißt, es

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