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Irgendwann ist Schluss

Irgendwann ist Schluss

Titel: Irgendwann ist Schluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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sah, wie sie den Wanderweg einschlug, weg von den Menschen, in die Einsamkeit, Richtung Küste, einen Rucksack auf den Schultern. Sie näherte sich der Klippe, blickte aufs Meer, fotografierte, und dieser Akt machte mich wahnsinnig vor Wut. Wie konnte sie jetzt, nach so einer Trennung, ans Fotografieren denken, und ich versteckte mich nicht mehr, sondern lief zu ihr hin, und als ich nur noch ein kleines Stück entfernt war, hörte sie das Knirschen des Bodens unter meinen Füßen, fuhr herum und schrie auf. Es gab keine Fluchtmöglichkeit. Sie sah sich um, aber es war niemand da, der ihr würde helfen können, es war zu früh am Morgen. Barbara wich nach links aus, ich lief nach links, sie wich nach rechts aus, ich lief nach rechts, sie ging nach hinten, zur Klippe, näher an den Abgrund heran. »Bitte nicht«, sagte sie. Zitterte. Ich lachte. Ich sagte ihr: »Ich habe dich geschaffen, ich kann dich vernichten.« Sie trat einen weiteren Schritt zurück. Und dann muss sich irgendwie ein Stein gelöst haben, ich schwöre es, nicht ich habe sie gestoßen, Barbara stand einfach zu nah am Rand der Klippe. Einen Schrei hörte ich und trat an den Rand, sie hatte sich gefangen, hielt sich mit beiden Händen an einem Felsen, unter ihr das Meer, und plötzlich wurde ich vollkommen nüchtern, ich sackte ohne nachzudenken in die Knie und hielt ihr die Hände hin, Barbara blickte mich an, mit einer Todesangst, die ich nie vergessen werde, sie ließ den Stein los und klammerte sich an meine Hände, und ich zog sie zu mir hoch und fasste sie unter den Achseln und am Rücken, wir keuchten, wie so oft in unseren Liebesnächten, nur diesmal ging es nicht um Liebe, es ging ums Leben, wir wälzten uns weg vom Abgrund. Wir lagen am Boden. Kurz. Dann stand ich auf. Schlug mir den Staub aus den Kleidern. »Es tut mir leid«, sagte ich und ging fort, ohne sie noch einmal anzublicken.
    Ich bin wieder zu Hause. Ich habe keine Schwierigkeiten gehabt, in den Container zurückzukehren. Natürlich hatte man nach meinem Verschwinden einen Nachfolger eingestellt, aber meine alten Kollegen setzten sich für mich ein. Ich tischte meinem Chef eine abenteuerliche Entführungsstory auf, die meine lange unentschuldigte Abwesenheit erklärte, ich sagte meinem Chef, ich hätte neue Ideen, grandiose Ideen, eine Frau, die in ihrer Erinnerung lebt, eine Frau, die nicht redet, nur schweigt, doch mein Chef sagte, das sei nicht gerade fernsehtauglich, ein Charakter, der schweigt, und ich erbleichte und wusste, er hatte recht, es blieb mir nichts übrig, als noch einmal zu versuchen, Barbate zu vergessen. Und jetzt sitze ich an meinem alten Schreibtisch im Container und lächle den Continuity-Freunden zu. Es muss alles weitergehen, sage ich, immer weiter, ich bin wieder da, Leute, ihr könnt auf mich zählen, und ich will die verbotene Geschwisterliebe, ich will Krebs, Hirntumor, Aids und Alzheimer, ich will K.-o.-Tropfen ins Getränk oder Schlafgas durchs offene Fenster, ich will anonyme Briefe, zerstochene Reifen, Drohanrufe, ich will einen Callboy, ein Callgirl, ich will die unglückliche Liebe, ich will Schwangerschaften, ich will auch Scheinschwangerschaften, ich will scheinbare Scheinschwangerschaften, ich will Drogen, Alkohol, Betrug, Inzest, ich will Outings und Intrigen, ich will lügen, bluffen, verzeihen, rächen, ich will Mord und Totschlag, ich will Brände, jede Menge Brände, denn wir brauchen ab und zu neue Kulissen, ich will einen Grafen und eine Küchenhilfe, die sich als Tochter des Grafen entpuppt, ich will den ewig gleichen WG -Zoff, ich will Plastikobst und Plastikbrötchen auf dem Frühstückstisch, ich will Getränke, die niemand trinkt und die immer stehen gelassen werden, ich will Zwiebeltränen und Pipettentränen, ich will den Blick, der sagt, ich liebe dich, aber niemand darf es erfahren, ich will die Engel stürzen und die Helden fallen sehen, ich will Kain und Abel, Ödipus und Pygmalion, ich will keine halben Geschichten mehr, ich will gute Enden, glückliche Enden, ich will, dass die Liebenden sich kriegen, ehe wir sie rausschreiben müssen.

Shot to Nothing
    I ch war enttäuscht, als der Auftraggeber auch zu diesem letzten Termin nicht selbst erschien, sondern, wie zuvor, seinen Mittelsmann schickte, dessen Name – Mike Divine – mit Sicherheit falsch ist. Unser Treffpunkt war das übliche Hotelzimmer. Der Aufzugspiegel schickte mir ein Gesicht, das sich ein wenig entspannte beim Gedanken, es bald geschafft zu haben. Mike

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