Irgendwas geht immer (German Edition)
im Zentrum der Aufmerksamkeit meines lieben Noel stünden und nicht mein bedauernswertes Hemd.
Ich stopfte meine Schuluniform in meine Schultasche und nahm mir einen Moment, um meine Toilette zu vollenden. Schließlich ist es doch das Erkennungsmerkmal des wahren Gentlemans, sorgsam frisiert und duftend am Orte des Geschehens einzutreffen. Ich konnte nur hoffen, dass eine anständige Portion von Vaters Sportdeo dem Schweißfluss unter meinen Achseln Einhalt gebieten oder, falls nicht, so doch zumindest den Gestank zu vertreiben vermöge. Ich gab ein paar Spritzer von Pamelas Lavendelwasser auf meinen Hals und versuchte, meinen wirren Schopf mit einem Klecks Haargel zu bändigen. Zu meiner Freude entdeckte ich vor kurzem, dass auf meinem Kinn die noch zarten, jedoch unübersehbaren Beweise meiner Männlichkeit zu sprießen beginnen. Ein letzter Blick in den Spiegel sagte mir, dass ich eine recht stattliche Figur abgab. Unglücklicherweise war ich gezwungen, das Schulgebäude in diesem himmelschreiend hässlichen Blazer zu verlassen (Vorschrift), doch im Großen und Ganzen war ich mit dem Ergebnis zufrieden.
Der Weg zu Mamas Praxis war das reine Vergnügen. Natürlich hätte er viel mehr Zeit in Anspruch genommen, wäre ich gezwungen gewesen, den Bürgersteig entlangzuspazieren, doch Fortuna wollte, dass ich eine Wolke hatte, auf der ich dahinschweben konnte. Mein Schritt war leicht und unbeschwert, und mein Gefährte war die Freude. Der schnelle Schlag meines Herzens half mir, den Weg in Windeseile zu bewältigen, angetrieben von der Freude auf ein Wiedersehen mit meinem lieben Noel. Der Himmel war blauer, die Sonne schien heller am Himmelszelt, die Blumen wirkten strahlender und bunter denn je. Alles war so herrlich, so frisch. Auch wenn ich ein »stattlicher Mann« sein mag, war ich in diesem Moment kaum mehr als ein zarter Hauch, fortgetragen von den Winden, hin zu meinem Schicksal. Zu meinem Liebsten. Zu Noel.
Nur einen Wimpernschlag später stand ich vor der Tür von Mamas Praxis. Das Herz schlug mir bis zum Halse und weigerte sich strikt, sich zu beruhigen oder gar stillzustehen, nein, es wollte zu Noel, sich mit seinem Herzen verbinden, und versuchte zu diesem Zweck, der Enge meiner Brust zu entkommen. Lisa begrüßte mich mit einem reichlich barschen: »Ha! Da ist er ja endlich, unser großer kleiner Lord . Gekommen, um sich unter die Sterblichen zu mischen und ein wenig Fronarbeit zu leisten!« Sie schob mich in das winzige Hinterzimmer hinter dem Empfangstresen, in dem sich die Aktenschränke befinden.
Lisa wird zunehmend wunderlich. Inzwischen sieht sie aus wie dieser australische Krokodilbändiger, den ein Stachelrochenstich dahingerafft hat. Steve Irwin. Ja, genau so sieht Lisa aus. Mir kam der Gedanke, dass eine unbeschreiblich abstoßende Erklärung für ihre seltsame Metamorphose ein Versuch sein könnte, Noel für sich zu gewinnen, indem sie sich ein australisches oder neuseeländisches Flair zulegt, das ihm vertraut ist. Doch ich habe den Gedanken sofort wieder verworfen – er war zu abscheulich, um mich ihm noch länger auszusetzen.
Sie gewährte mir einen kurzen Einblick in das hoffnungslos archaische Ablagesystem. Ich fasse es nicht, dass hier immer noch mit handschriftlichen Listen gearbeitet wird, fürchte jedoch, dass Mamas strikte Ablehnung technischer Hilfe damit in Zusammenhang steht. Das System ist von geradezu Dickens’scher Altertümlichkeit, macht jedoch meine Aufgabe beinahe lächerlich einfach. Akten alphabetisch ordnen. Ja, ich bin zuversichtlich, dass ich dieser Anforderung gewachsen bin. Offen gesagt war mir recht schnell klar, dass ich sogar vorsätzlich Langsamkeit würde mimen müssen, um den Prozess ein wenig in die Länge zu ziehen. Währenddessen war ich gezwungen, mir unter Zuhilfenahme lächerlichster Ausreden die Gelegenheit zu verschaffen, der Enge dieses Hinterzimmers von Zeit zu Zeit zu entfliehen.
Das ist das Schlimme an diesen Psychoärzten – sie arbeiten hinter hermetisch abgeriegelten Türen, und niemand darf sich während der »Sitzungen« Zugang zu ihren Therapieräumen verschaffen, noch nicht einmal, um eine Erfrischung anzubieten. Das habe ich schon sehr früh von Mama gelernt, als ich als dreizehnjähriger Jüngling einmal in ihr Zimmer geplatzt bin, in dem sie gerade irgendeinen armen Tropf therapierte. Ich dachte, es gäbe nichts dagegen einzuwenden, wenn ich mich für eine Weile zu ihnen gesellte, und erkundigte mich sogar, ob ich denn in
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