Irgendwas geht immer (German Edition)
abgewandtem Kopf die Hand hin. »Taschengeld … dringend … bitte … jetzt gleich.« Oder: »Shampoo … wichtig …« Oder: »Hund … hinter die Tür gekotzt. Wegmachen.«
In schriftlicher Form manifestiert sich dies in Form von gelben Haftzetteln an der Kühlschranktür oder neben dem Telefon. Auch sie zeichnen sich durch ihre Kürze und Prägnanz aus. In einem besonders eindringlichen Statement forderte sie mich auf: »Streberarsch, raushalten!«
Wie reizend. Spontane Gespräche oder gar Diskussionen sind von vornherein ausgeschlossen. In der Gegenwart anderer, beispielsweise wenn Freunde zu Besuch sind oder so, tut sie so, als bestünde so etwas wie eine Beziehung zwischen uns, um die Anspannung zu lösen und den Anschein von Zugänglichkeit zu erwecken. Dora steckt in einer nicht gerade beneidenswerten Zwickmühle und ist ständig hin und her gerissen zwischen gnadenloser Egozentrik und allgemein als angemessenes Sozialverhalten geltendem Gebaren. Es ist die klassische Sturm-und-Drang-Zeit. Wir, die Familie, sind lediglich lästige Hindernisse, die der Sturm auf seinem Weg niedermähen muss, um sich auszutoben.
Ich weiß, dass dies psychologisch absolut nachvollziehbar ist, aber was in drei Teufels Namen ist nur mit diesem Mädchen los? Es tut mir in der Seele weh, dass sie so sehr von ihren Launen gebeutelt wird, aber ich habe ihr mehrfach erläutert, dass ich diese Prozesse aus zwei Gründen durchaus verstehen kann:
Als Psychotherapeutin ist es mein Job, so etwas zu verstehen.
Ich war selber einmal Teenager, herzlichen Dank.
Ich weiß genau, was sie durchmacht, und sie wüsste es auch, wenn sie einen Moment lang aufhören würde herumzuzetern. Dann würde sie merken, dass ich recht habe. Wäre sie nicht ständig so entsetzlich auf Krawall gebürstet, würde sie mir zuhören und meinen Rat annehmen, könnte sie sich die schlimmsten Auswüchse dieses grauenvollen Teenageraufruhrs in ihrem Innern ersparen. Ich könnte ihr Tipps geben, wie sie all das umgehen kann. Sie hat alles, was sie braucht, direkt vor der Nase, Herrgott noch mal.
Ich weiß ja, dass Dora in akademischer Hinsicht nicht gerade die hellste Kerze am Baum ist, und eigentlich ist es mir auch nicht so wichtig, aber ich bin sicher, dass sie einen ziemlich ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb hat, deshalb kann ich mich nur fragen, wieso sie es sich nicht ein bisschen einfacher macht und mit dem Strom schwimmt, statt ständig nur dagegen. Ich kann sie nicht zwingen, sondern nur versuchen, in der Peripherie ihres Chaos halbwegs für Ordnung zu sorgen.
Und genau das habe ich heute getan. Ich habe einen Termin bei einer Frauenärztin vereinbart, damit sie mit ihr über Sex redet. Oh Gott, meine Tochter wird bald mit einem Mann Sex haben! Ich selbst hatte Sex und habe folglich einer Tochter das Leben geschenkt, und jetzt steht genau diese Tochter im Begriff, selbst Sex zu haben. Dabei ist sie für mich immer noch zwölf. Was sie angeht, habe ich jegliches Zeitgefühl verloren, und während ich mit anderen Dingen beschäftigt war, hat sie sich in rasantem Tempo zur Frau entwickelt. Es ist absolut unfassbar, dass sie bald achtzehn wird. Ich war sechzehn, als ich das erste Mal mit einem Jungen geschlafen habe, aber das kann ich ihr natürlich nicht verraten.
Sicherlich ist es nur normal, dass ich genau an dem Tag darauf komme, an dem ich selbst zur Vorsorgeuntersuchung beim Frauenarzt muss. Diese Untersuchungen sind der reinste Horror für mich. Ich lasse mir immer gleich den ersten Termin des Tages geben, damit ich mich nicht den ganzen Tag lang deswegen verrückt machen kann. Obwohl ich die Prozedur x-mal hinter mich gebracht habe und genau weiß, dass es nicht weh tut, habe ich jedes Mal schweißnasse Hände und zittere am ganzen Leib. Ich habe mich sogar schon bei der Frage »Finden Sie nicht auch, dass es hier drin eiskalt ist?« ertappt, um zu kaschieren, dass ich vor Angst schlotterte. Die Frauenärztin bestätigt jedes Mal, dass es tatsächlich recht frisch sei, um mich ein wenig zu beruhigen, andererseits ist sie der brutale Folterknecht, der meine Brüste in einen Schraubstock klemmt und meine zu Tode verängstigte Vagina mit einer Metallgabel gewaltsam auseinanderdrückt, während sie mich mit Geschichten über die eklatanten Verfehlungen der Stadtverwaltung und die Fortschritte an der Baustelle an der Ausfahrt der A4 bei Laune hält. Und natürlich bleibt mir keine andere Wahl, als mich auf ihr Geplapper einzulassen, während
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