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Irgendwo ganz anders

Irgendwo ganz anders

Titel: Irgendwo ganz anders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jasper Fforde
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weiß.«
    »Wir werden alle sterben«, fuhr er fort, »... schon wieder .«
    Ich hob den Kopf und sah ihm in die Augen. Mir war noch gar nicht aufgefallen, wie unglaublich blau sie waren.
    »Am Ende sterben Sie alle, habe ich recht?«, sagte ich niedergeschlagen. »Egal, was ich tue. Ein immer schlimmeres Dilemma nach dem anderen, bis alle tot sind, richtig?«
    »Vier Minuten, Captain.«
    »Ist das richtig?«
    Fitzwilliam sah zur Seite.
    »Ich habe Sie etwas gefragt, Nummer eins.«
    Er sah mich an und schien Tränen in den Augen zu haben. »Wir sind alle schon ertrunken«, sagte er mit leiser Stimme, »jeder von uns über tausend Mal. Wir sind aufgegessen und in die Luft gejagt worden und haben tödliche Krankheiten gehabt. Aber das Ertrinken ist das Schlimmste. Jedes Mal schlägt das Wasser über mir zusammen, ich bekomme keine Luft mehr und eine hilflose Panik erfasst mich, wenn ich ersticke –!«
    »Fitzwilliam«, wollte ich wissen, »wo ist dieser grässliche Ort?«
    Er atmete schwer und senkte die Stimme. »Wir sind Mündliche Überlieferung, aber wir sind nicht in einer Geschichte – wir sind ein Ethikkurs.«
    »Sie meinen, Sie sind hypothetische Charaktere in einem Seminar?«
    Fitzwilliam nickte traurig. Der Steward reichte mir mit eisiger Miene eine Zange und ermahnte mich eindringlich flüsternd, dass nur noch drei Minuten blieben.
    Ich sah gedankenverloren auf die Zange, auf Jebediah, dann wieder auf Fitzwilliam, der auf den Boden starrte. So viel Leiden an Bord dieses Schiffes und über so lange Zeit. Eventuell gab es einen Ausweg. Allerdings gefährdete eine derart radikale Handlungsweise in der Mündlichen Überlieferung das Leben des Dozenten, der den Vortrag hielt. Also, was war wichtiger? Das Wohlbefinden eines Ethikprofessors in der wirklichen Welt oder die ständige Qual seiner Geschöpfe, die dreimal die Woche in zweistündigen Sitzungen seine sadistischen und gnadenlosen hypothetischen Dilemmas erdulden mussten? Jedes Mal, wenn eine tragische Geschichte erzählt wird, muss jemand in der BuchWelt sterben. In der Mündlichen Überlieferung wurden vielleicht die besten Geschichten erzählt – aber auch die verhängnisvollsten.
    »McTavish, machen Sie das Rettungsboot fertig. Ich gehe.«
    McTavish sah auf Fitzwilliam. Dieser zuckte die Achseln, und der große Schotte und seine Tätowierungen verschwanden.
    »Das ist gar keine gültige Option«, sagte Fitzwilliam. »Sie können das nicht tun.«
    »Ich habe Erfahrung mit der Mündlichen Überlieferung«, sagte ich zu ihm. »Alle diese Situationen entstehen nur, weil ich hier bin und eine Entscheidung treffen muss. Und es gibt nur einen Weg: eine Abwärtsspirale. Ein immer auswegloseres Dilemma nach dem anderen, bis alle tot sind. Nur ich und eine weitere Person bleiben übrig, und ich werde gezwungen sein, diese Person zu töten und zu essen oder etwas in der Art. Wenn ich mich aus der Gleichung entferne, können Sie das Meer ungehindert befahren – und sind gerettet.«
    »Aber das könnte, das könnte –«
    »Dem Dozenten Schaden zufügen, ihn sogar töten? Möglich. Wenn die Bombe hochgeht, wissen Sie, dass ich versagt habe. Wenn das nicht passiert, sind Sie alle gerettet.«
    »Und Sie?«, fragte er. »Was geschieht mit Ihnen?«
    Ich klopfte ihm auf die Schulter. »Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Ich denke, das Außenland hat Ihnen genug Leiden zugefügt.«
    »Wir könnten Sie doch wieder an Bord nehmen, wenn alles gut geht.«
    »Nein«, sagte ich, »so funktioniert das nicht. Es darf kein Trick sein. Ich muss mich meinem Schicksal überlassen.«
    Ich verließ die Offiziersmesse und ging hinaus. McTavish hatte das Boot bereits zu Wasser gelassen. Mit Hilfe von Leinen, die vorn und achtern festgemacht waren, hielten Decksleute es an das Kletternetz. Wenn die Wellen kamen, schlug es gegen den Schiffsrumpf. Als ich mein Bein über die Reling schwang, ergriff Fitzwilliam meinen Arm. Aber er wollte mich nicht zurückhalten – er wollte mir die Hand schütteln.
    »Goodbye, Captain – und vielen Dank.«
    Ich lächelte.
    »Glauben Sie, Sie erreichen den mutmaßlichen Hafen?«
    Er lächelte zurück. »Wir tun unser Bestes.«
    Ich kletterte das Netz hinunter und stieg ins Rettungsboot. Sie ließen die Leinen los, und das Boot schaukelte heftig, als es von der Bugwelle erfasst wurde. Ich glaubte schon, es würde kentern, aber es blieb aufrecht und fiel schnell zurück, als das Schiff davondampfte.
    Ich zählte die Sekunden bis zu dem Zeitpunkt, an

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