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Irgendwo ganz anders

Irgendwo ganz anders

Titel: Irgendwo ganz anders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jasper Fforde
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dass ich mich irrte.
    »Wie heißt dieses Schiff eigentlich?«
    »Das Schiff?«, antwortete Baldwin fröhlich. »Das ist das Dampfschiff Dilemma , Capt’n.«
    Ich legte die Hände vors Gesicht und stöhnte. Anne Wirthlass-Schitt und ihr widerlicher Ehemann hatten diesen Ort mit Bedacht gewählt. Schon jetzt waren meine Nerven stark angespannt, und ich fühlte, wie mich die schwere Hand der Schuld niederdrückte. Dabei war ich gerade mal seit einer Stunde hier – wie würde es mir erst in einer Woche oder in einem Monat ergehen? Die Situation war wahrhaftig wenig erstrebenswert: Ich trieb auf dem Hypothetischen Ozean und kommandierte die Dilemma.
    »Captain?«
    Dieses Mal war es der Koch. Er war unrasiert und trug eine weiße Uniform, die so fleckig war, dass man kaum erkennen konnte, wo die Flecken endeten und wo die Uniform begann.
    »Ja?«, sagte ich verhalten.
    »Ich bitte um Entschuldigung, aber es hat eine schwere Fehleinschätzung bei den Vorräten gegeben.«
    »Und?«
    »Es dauert noch sechs Monate, bis wir in den Hafen einlaufen«, fuhr der Koch fort, wobei er sich auf ein schmuddeliges Blatt mit Berechnungen bezog, »und selbst bei knappsten Rationen für die Mannschaft und die Passagiere reichen unsere Vorräte nur für zwei Drittel der Zeit.«
    »Was wollen Sie damit sagen?«
    »Dass alle vierzig Seelen an Bord verhungern werden, bevor wir den Hafen erreichen.«
    Ich winkte Fitzwilliam heran. »Gibt es keinen anderen Hafen, der näher liegt?«
    »Nein, Captain«, antwortete er. »Der mutmaßliche Hafen ist Port Conjecture , und es gibt keinen anderen.«
    »Hab ich mir schon gedacht. Und ich vermute stark, dass es auch keine Fische gibt?«
    »Nicht in diesen Gewässern.«
    »Andere Schiffe?«
    »Keine.«
    Jetzt verstand ich. Das waren also die »schwierigen Sachen«, von denen Baldwin gesprochen hatte, und es lag ganz allein an mir, sie zu regeln. Das Schiff, das Meer und die Menschen mochten hypothetisch sein, aber sie konnten leiden und sterben wie alle anderen auch.
    »Danke«, sagte ich zu dem Koch. »Ich werde Ihnen meine Entscheidung mitteilen.«
    Er salutierte lässig und verschwand.
    »Nun, Fitzwilliam«, sagte ich, während ich ein paar einfache Rechnungen auf einem Stück Papier anstellte, »es gibt genug Nahrung für sechsundzwanzig Personen. Mehr können den Hafen nicht lebend erreichen. Meinen Sie, wir finden vierzehn Freiwillige, die sich über die Reling werfen, um das Überleben der anderen zu gewährleisten?«
    »Das bezweifle ich.«
    »Dann habe ich ein Problem. Ist es meine oberste Pflicht als Kapitän, dafür zu sorgen, dass so viele Menschen wie möglich auf meinem Schiff überleben, oder bin ich moralisch dazu verpflichtet, nicht zu morden und Mord auch nicht hinzunehmen?«
    »Die Menschen in dem Rettungsboot von eben werden Sie fraglos als Mörderin betrachten.«
    »Möglich, aber das Problem jetzt ist schwieriger. Es ist kein Fall von Untätigkeit , durch die ein Zustand herbeigeführt wird, sondern von aktivem Handeln. Folgendes werde ich tun. Alle unter achtzehn sind von dem Verfahren ausgeschlossen, ebenso sechs Seeleute, die dafür sorgen sollen, dass das Schiff weiterfährt. Alle anderen werden Strohhalme ziehen – dreizehn werden über Bord gehen.«
    »Und wenn sie nicht gehen wollen?«
    »Dann stoße ich sie hinab.«
    »Dafür werden Sie hängen.«
    »Nein, werde ich nicht. Ich bin Nummer vierzehn.«
    »Sehr ... selbstlos «, murmelte Fitzwilliam. »Aber wenn Sie sechs Mannschaftsmitglieder von dem Verfahren ausschließen, bleiben immer noch einunddreißig Passagiere unter achtzehn Jahren. Sie werden sieben von ihnen auswählen müssen. Können Sie unschuldige Kinder über Bord werfen?«
    »Aber ich rette den Rest, richtig?«
    »Dazu kann ich nichts sagen«, sagte Fitzwilliam leise. »Ich bin nicht der Kapitän.«
    Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Mein Herz hämmerte und kalte Panik wühlte in meinem Inneren. Ich musste schreckliche Dinge tun, um Leben zu retten, und wusste nicht einmal, ob ich dazu fähig war. Die Alternative war, das Leben aller Personen an Bord zu gefährden. Ich hielt einen Augenblick inne und überlegte. Seit ich an Bord war, waren die Dilemmas nach und nach immer auswegloser geworden. War das eventuell eine kuriose Reaktion auf meine Entscheidungen? Ich beschloss, einen Versuch zu machen.
    »Nein«, sagte ich, »ich werde niemanden töten, nur weil eine abstrakte ethische Situation es erfordert. Wir fahren weiter wie bisher und vertrauen

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