Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)
Tag, und trotzdem reicht es oft kaum, um ihre Familien satt zu bekommen. Wollen Sie es einem Mann verübeln, wenn er ab und zu ein paar verbogene Kupfernägel mitnimmt oder ein Stück Draht, das sowieso niemand mehr braucht, um es zu verkaufen und seinen Kindern eine warme Mahlzeit zu ermöglichen?«
Die Heftigkeit dieses Ausbruchs überraschte nicht nur mich. Auch an den Nebentischen verstummte das eine oder andere Gespräch, Augenbrauen wurden gehoben, und mehr als ein irritierter Blick ging in unsere Richtung. Ich schluckte gerade noch die Bemerkung hinunter, dass schließlich niemand diese Arbeiter gezwungen hatte, im Durchschnitt ein Dutzend Kinder in die Welt zu setzen und einen Gutteil ihres Lohnes in die Kneipen und Hurenhäuser der Stadt zu tragen.
»Aber es geht nicht um eine Handvoll Kupfernägel oder ein Stück Draht«, sagte ich stattdessen.
Carter beruhigte sich so schnell wieder, wie sie die Beherrschung verloren hatte, und wirkte jetzt eher verlegen. Auch das stand ihr ausgezeichnet, fand ich. Eigentlich sah alles irgendwie hübsch aus, was sie tat.
»Nein«, sagte sie. »Seit einer Weile haben diese Diebstähle zugenommen. In beunruhigendem Maße.«
Dann musste es viel gewesen sein, wenn Jacobs Enterprises tatsächlich so groß war, wie sie behauptete. Ich hätte das nicht gewusst, doch bevor ich dazu kam, diesen Gedanken in Worte zu kleiden, meldete sich die Glocke über der Tür, und ein Mann in der schwarzen Uniform der Belfaster Polizei betrat das Café. Den hohen Helm hatte er unter den linken Arm geklemmt, und wenn ihm überhaupt auffiel, dass bei seinem Eintreten sämtliche Gespräche kurzzeitig verstummten, dann ließ er es sich nicht anmerken. Wahrscheinlich war er es so gewohnt, dass er es nicht einmal mehr zur Kenntnis nahm. Mir war es seinerzeit auch nicht anders ergangen.
Scheinbar unbeeindruckt schloss er die Tür hinter sich, aber mir entging auch nicht, dass er die Bewegung nutzte, um seinen Blick unauffällig durch das ganze Café streifen zu lassen und jeden einzelnen Gast einer kurzen, aber sehr aufmerksamen Musterung zu unterziehen.
Ebenso wenig, wie mir das kaum merkliche Nicken entging, das er Carter zuwarf, als er an unserem Tisch vorüberging und den Durchgang zum Abort ansteuerte.
»Kennen Sie sich?«, fragte ich, wohlweislich aber erst, nachdem der Mann durch besagte Tür verschwunden war.
Carter schüttelte den Kopf und nickte, beides in ein und derselben Bewegung. »Er gehört zu Adlers Männern. Der Beamte, der die Untersuchung leitet. Ich habe ihn ein- oder zweimal gesehen. Warum?«
Ich schüttelte nur knapp den Kopf und hatte plötzlich einen schalen Geschmack im Mund.
Adler! Auch das noch. Der Mann, der mich fast vernichtet hatte und schuld daran war, dass ich ein halbes Jahr unschuldig im berüchtigtsten Gefängnis Belfasts gesessen hatte. Die Monate hinter Gittern waren die Hölle gewesen, und das nicht nur, weil das Crumlin Road Gaol seinem schlechten Ruf mit unerträglichen Haftbedingungen mehr als gerecht geworden war, sondern auch, weil sich Wärter und Gefangene einen Spaß daraus gemacht hatten, einen ehemaligen Polizisten zu drangsalieren.
»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Carter. »Sie sehen plötzlich so blass aus.«
Ich schüttelte den Kopf und kramte mit zitternden Fingern eine Zigarre hervor.
Wenn Adler mit dem Fall befasst war, konnte das für mich übel ausgehen. Vielleicht sollte ich jetzt einfach aufstehen und das Gespräch und alle weiteren Nachforschungen abbrechen, die mich wer weiß wohin führen konnten – im schlimmsten Fall zurück ins Gefängnis.
Carter sah schweigend zu, wie ich ungeschickt mit meiner dick bandagierten Hand versuchte, ein Streichholz anzureißen, zog schließlich flüchtig die Mundwinkel nach oben und nahm mir die kleine Mühe dann ab.
Ich paffte ausgiebig und erfreute mich zugleich an dem Anblick, wie sie mit spitzen Lippen das Streichholz ausblies, statt es auszuwedeln, wie ich es getan hätte.
»Ein … Betriebsunfall?«, fragte sie mit einer Kopfbewegung auf den Verband.
Ich nickte. »Eine Bande chinesischer Sklavenhändler. Ich konnte sie auf frischer Tat überraschen und dingfest machen, aber einer der Gelben hatte so spitze Knochen, dass ich mich daran verletzt habe. Eigene Dummheit.«
Ich konnte Carter ansehen, wie wenig amüsant sie diese Antwort fand und dass sie schon fast ein bisschen beleidigt war. Das tat mir leid – aber ihr die Wahrheit zu sagen wäre wohl noch weit weniger gut angekommen.
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