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Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)

Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)

Titel: Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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verfolgt zu werden glaubte, und es gab kaum etwas Geeigneteres als die Massen von Menschen, die sich stets in der brandneuen Straßenbahn drängten, um darin unterzutauchen und einen potenziellen Verfolger abzuschütteln.
    Umso erstaunter – und ein bisschen beunruhigt – war ich, als wir die Haltestelle fast leer vorfanden. Während Allison zu dem kleinen Schalter ging, um Billetts zu kaufen (sie hatte darauf bestanden, zumindest meine Unkosten zu übernehmen), sah ich mich verstohlen um und versuchte das Unbehagen zu ignorieren, das mich beschleichen wollte. Ich unterzog die anderen Wartenden einer kurzen, aber sehr aufmerksamen Musterung. Es waren nur drei, ein junges Pärchen, das ein halbes Dutzend Schritte entfernt stand und ebenso verstohlen wie ungeniert turtelte, und ein Mann mittleren Alters, der vollkommen reglos ins Leere starrte und in seine eigenen, vermutlich nicht sehr angenehmen Gedanken versunken war. Er war unauffällig, aber gut gekleidet, trug einen runden Hut, und auf seiner Wange prangte ein großer Leberfleck.
    Ich sah den Mann so lange an, bis dieser mein Starren spürte und meinen Blick aus Augen erwiderte, die mir so kalt und gefühllos wie bemalte Glaskugeln vorkamen.
    Der Gedanke erschreckte mich, und ich fragte mich, wie ich ausgerechnet auf diesen Vergleich kam, beantwortete meine eigene Frage aber auch nicht nur sogleich selbst, sondern verspürte einen neuerlichen und noch tieferen Schrecken. Und ein sachtes schlechtes Gewissen. Nach dem, was ich vor drei Tagen erlebt hatte – oder erlebt zu haben glaubte , verbesserte ich mich ganz bewusst in Gedanken, denn ich war mittlerweile ganz und gar nicht mehr sicher, mir diesen unheimlichen Zwischenfall nicht doch nur eingebildet zu haben. Schließlich war es unmöglich. Nach dem also, was ich vor drei Tagen erlebt zu haben glaubte, war es nur zu verständlich, wenn ich nervös war und der einen oder anderen Kleinigkeit eine Bedeutung zumaß, die sie nicht hatte. Vielleicht trug der Mann einfach eine Brille oder einen Kneifer, und ganz sicher tat ich ihm Unrecht.
    Ich schenkte ihm ein angedeutetes Nicken, und der Fremde drehte den Kopf wieder in die andere Richtung. Das war ein bisschen unhöflich, aber ihn minutenlang einfach nur anzustarren zeugte auch nicht gerade von gutem Benehmen, sodass wir zumindest quitt waren.
    Und ganz bestimmt hatte er eine Brille getragen.
    Allison kam zurück und schwenkte zwei Fahrkarten wie Jagdtrophäen, um die sie lange und hart hatte kämpfen müssen. »Wir können losfahren«, erklärte sie ebenso stolz wie überflüssig.
    Wozu nur noch die Bahn selbst fehlte, aber ich brachte es einfach nicht übers Herz, ihre mädchenhafte Begeisterung zu dämpfen, und sah nun fast sehnsüchtig in die Richtung, aus der sie kommen musste.
    Mein Blick verlor sich an dem doppelten eisernen Schienenstrang, der wie ein erstarrter Fluss zwischen den Häusern verschwand. Es waren wirklich moderne Zeiten, die kamen, und ich war jetzt schon sicher, sie nicht zu mögen. Nicht, dass sie Rücksicht darauf nehmen würden. Vor wenigen Jahren erst hatte die Welt den Schritt in ein neues Jahrhundert getan, und obwohl ich mich selbst für alles andere als konservativ oder gar altmodisch hielt, ging mir inzwischen alles viel zu schnell. Wer immer nur vorwärtshastete, lief Gefahr, ins Stolpern zu geraten und zu stürzen.
    Ich hatte meine Lebensmitte noch nicht erreicht, war aber trotzdem schon in einem Alter, in dem man ernsthaft anfing, sich Gedanken über selbiges zu machen. Nicht, dass ich mich alt fühlte oder gar gebrechlich (oder es wäre!), aber die eine oder andere Tätigkeit fiel mir doch schon merklich schwerer als noch vor zehn Jahren, und manchmal wurde ich mir geradezu schmerzhaft der Tatsache bewusst, dass mich vom Grab nicht mehr allzu viele Tage mehr trennten als von der Wiege und es unerbittlich weniger wurden, mit jedem Morgen, an dem ich die Augen aufschlug.
    Aber wenn ich mir dieses eiserne Monstrum ansah und an mein unheimliches Erlebnis in dem aufgegebenen Schlachthof dachte, sinnierte ich nicht ohne Sarkasmus, dann konnte man der Sterblichkeit vielleicht doch wieder eine positive Seite abgewinnen.
    Etwas klimperte, und auch dieser Laut wollte eine Erinnerung in mir wecken, auf die ich keinen Wert legte. Dennoch sah ich mich rasch und beinahe erschrocken um, stellte aber nur fest, dass es nichts festzustellen gab. Das verliebte Pärchen stand immer noch da und flüsterte und kicherte, und der Mann mit dem

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