Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)
Tag länger.«
Auch das deckte sich mit dem, was Jacobs mir berichtet hatte, nur klang es bei ihr deutlich dramatischer. »Und das hat niemand gemerkt?«
»Wenn es niemand gemerkt hätte, dann wären wir jetzt nicht hier«, antwortete sie mit sanftem Tadel. »Stanley ist nicht nur einfach ein reicher Kaufmann, von denen es in dieser Stadt mehr als genug gibt. Sie haben von der Titanic gehört?«
Wer hatte das nicht. »Dieses große Schiff, das sie bei Harland & Wolff bauen?« Ich nickte. »Selbstverständlich.«
Carters Antwort bestand jedoch nur aus einem so heftigen Kopfschütteln, dass eine ältere Frau am Nachbartisch den Kopf drehte und ihr ein fragendes Stirnrunzeln zukommen ließ. Und mir anschließend – selbstverständlich – einen missbilligenden Blick. »Die Titanic ist nicht nur irgendein großes Schiff«, belehrte sie mich. »Wenn sie fertig ist, dann wird sie nicht nur das größte Schiff der Welt sein, Quinn, sondern das größte bewegliche Objekt, das Menschen jemals erbaut haben!«
Auch das war mir nicht neu. Man lebte nicht in dieser Stadt, ohne alles über dieses wahrhaft zyklopische Schiff zu hören, was es zu hören gab, ob man nun wollte oder nicht, und natürlich war auch nahezu jeder, der in irgendeiner Form mit Belfast zu tun hatte, auf die eine oder andere Weise stolz darauf. Aber was ich bei Carter spürte, das war weitaus mehr, eine Begeisterung, die weit über das normale Maß hinausging und fast an Fanatismus grenzte. Ihre Augen leuchteten in einem missionarischen Eifer, der schon den bloßen Gedanken im Keim erstickte, sich ihm widersetzen zu wollen.
Außerdem machte es mich neugierig.
»Und was hat Jacobs mit diesem Schiff zu tun?«, fragte ich – obwohl ich die Antwort zu kennen glaubte. Schließlich hatte Jacobs mir nicht nur alles in aller Ausführlichkeit erklärt, sondern auch meine Fragen geduldig beantwortet; und das waren nicht wenige gewesen. Aber vielleicht erfuhr ich ja etwas Interessantes, wenn ich mich dumm stellte und sie einfach reden ließ. Oft war das das Klügste.
»Seine Firma ist am Bau der Titanic beteiligt?«
»Ist das nicht irgendwie jeder hier in Belfast?«, fragte Carter, schüttelte zugleich aber auch schon wieder den Kopf. »Vielleicht nicht direkt, und ganz bestimmt werden Sie seinen Namen nicht auf irgendeiner Bronzetafel finden, wenn das Schiff fertig ist. Aber Tatsache ist auch, dass es ohne ihn und das von seiner Firma gelieferte Material wahrscheinlich kaum fertig würde.«
»Sie liefern Stahl«, vermutete ich, »oder Maschinen.«
»Ein Schiff besteht nicht nur aus Stahl und Maschinen«, sagte Carter in einem leicht gönnerhaften Ton, den ich ihr beinahe übel nahm. Aber nur beinahe. »Es gehört schon ein wenig mehr dazu. Allein mit dem verarbeiteten Holz könnte man eine ganze Flotte kleinerer Schiffe bauen oder eine neue Kolonie auf einem anderen Kontinent gründen.«
»Aber Jacobs’ Kontor liefert kein Holz«, vermutete ich. »Was dann?«
»Alles, was irgendwie mit Elektrizität zu tun hat«, antwortete sie. »Nicht nur Glühbirnen und Lichtschalter, sondern auch Kabeltrommeln, Sicherungen und Relais, Stromleitungen und Generatoren und Isolatoren …« Sie breitete die Hände aus, um zu verdeutlichen, dass sie diese Aufzählung noch beliebig lange fortsetzen konnte, und ich beeilte mich zu nicken, bevor sie am Ende noch auf die Idee kam, es wirklich zu tun. Nicht, dass ich sie nicht gerne reden hörte. Oder ihr dabei zusah.
»Ein modernes Passagierschiff ist im Grunde so etwas wie eine schwimmende Stadt, und es braucht auch genauso viel Energie wie eine solche«, fuhr sie fort. »Stanleys Kontor liefert alles, was nötig ist, um diese Energie bereitzustellen, von den zahllosen Glühlampen im großen Salon hin bis zu den Kontakten im Morsegerät des Funkers. In einem so großen Unternehmen ist ein gewisser … Schwund normal.«
»Sie meinen, man sieht nicht zu genau hin, solange die Arbeiter nicht zu lange Finger machen.«
Ich hatte das vollkommen wertfrei gesagt, nicht mehr als die Feststellung einer Tatsache, die ohnehin allgemein bekannt war, und doch huschte ein Schatten über Carters Gesicht, als machten sie diese Worte so zornig, dass sie sich kaum noch beherrschen konnte, mich nicht anzuschreien.
»Diese Männer arbeiten für einen Hungerlohn, Mister Devlin«, sagte sie scharf und gewiss nicht zufällig für diesen einen Satz wieder in die förmliche Anrede wechselnd. »Zwölf, manchmal vierzehn oder sechzehn Stunden am
Weitere Kostenlose Bücher