Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)
weit ausgreifender Schritte um, mit denen ich den vorderen Wagen erreichte, bevor er ganz zum Stehen gekommen war. Eine stämmige Frau, die eigentlich viel zu elegant gekleidet war, um in eine Straßenbahn zu passen, wollte gerade den Wagen verlassen und trat mir dabei in den Weg. Ich drängte mich so rücksichtslos an ihr vorbei, dass sie erschrocken rückwärtsstolperte und ihr eine wenig damenhafte Bemerkung entschlüpfte, die sich längst nicht nur auf meine mangelhaften Manieren bezog. Etliche andere Fahrgäste sahen ebenfalls ärgerlich oder missbilligend in meine Richtung.
Ich verschwendete jedoch nicht einmal einen Gedanken daran, sondern drängte mich rücksichtslos weiter durch das Wageninnere, das so überfüllt war, wie sich der hintere Wagen als schon fast unheimlich leer erwiesen hatte, und behielt den seltsamen Fremden dabei fest im Blick. Er wandte mir jetzt den Rücken zu und sah weiterhin starr nach hinten, als hätte er noch gar nicht gemerkt, dass ich den nachfolgenden Wagen längst verlassen hatte. Ein zweites Mal würde er mir nicht entkommen. Das war vollkommen ausgeschlossen, es sei denn, dass er sein bizarres Kunststück noch einmal und diesmal vor aller Augen wiederholte. Doch ich war ziemlich sicher, dass er das nicht wagen würde.
Er tat es auch nicht, doch ich kam nun zunehmend langsamer von der Stelle. Das Gedränge vor mir verfestigte sich, sodass ich nun Hände und Ellbogen zu Hilfe nehmen musste, um mir meinen Weg durch die Masse der Passagiere zu bahnen – was mir nicht nur böse Blicke und wenig schmeichelhafte Bemerkungen einbrachte, sondern auch den einen oder anderen unsanften Knuff in die Rippen.
Es war mir gleich. Endlich erreichte ich den Mann mit dem runden Hut und zerrte ihn unsanft an der Schulter herum. »Sie da! Sie werden mir jetzt einige Fragen …«
Ich sprach nicht einmal meine eigene Frage ganz zu Ende, als sich der Mann umdrehte und ich in ein Gesicht sah, in dem es nicht nur keinen Leberfleck gab, sondern das nicht einmal das eines Mannes war.
Vor mir stand eine Frau von vielleicht dreißig oder vierzig Jahren, die blasse Haut und sonderbar grobschlächtige Züge hatte – soweit ich das beurteilen konnte, hieß das, denn der Großteil ihres Gesichts und vor allem ihre Augen waren hinter einem dünnen Schleier aus schwarzer Gaze verborgen. Statt elegantem Zwirn trug sie ein einfaches Kleid, wie man es bei einer Wäschefrau erwarten mochte, und einen winzigen Hut, der dem einzigen Zweck zu dienen schien, den Schleier zu halten. Außerdem stützte sie sich auf einen betagten schwarzen Regenschirm.
Ich blinzelte, doch das unheimliche Bild blieb. Das war absolut unmöglich und vollkommen ausgeschlossen, denn ich hatte den Burschen trotz allem nicht für eine Sekunde aus den Augen gelassen, aber die Logik drehte mir eine lange Nase, und es blieb dabei.
Hinter mir entstand neue Aufregung, und eine scharfe Stimme sagte: »Was soll das denn?«
Ich wurde mir plötzlich des Umstandes bewusst, dass meine Hand noch immer auf der Schulter der verschleierten Frau lag und zog sie fast erschrocken wieder zurück. Hinter mir sagte die Stimme jetzt noch schärfer: »Sir! Ich muss doch bitten!«
Ich zog die Hand ein weiteres Stück zurück und ließ endlich auch den Arm sinken, bevor ich mich umdrehte und ins Gesicht eines Schaffners blickte, der sich eindeutig noch rücksichtsloser als ich gerade durch den Menschenpfropfen drängte, der den Mittelgang verstopfte, was ihm allerdings niemand übel zu nehmen schien. Völlig unpassend in dieser Situation, aber mit einem weiteren Gefühl von Unwirklichkeit fragte ich mich, warum sich all diese Menschen eigentlich in diesen einen Wagen quetschten, wo doch der zweite so vollkommen leer gewesen war. Dann hatte mich der Schaffner erreicht und blieb gerade dicht genug vor mir stehen, um aus seiner Nähe etwas Bedrohliches zu machen.
»Sir, erklären Sie sich!«, verlangte er. Er war ein sehr großer und kräftiger Mann, der um beides wusste und auf diese Wirkung baute – aber das galt auch für mich, und auch ich zweifelte nicht daran, dem Burschen bei diesem Spielchen haushoch überlegen zu sein.
In allem anderen auch, wenn es sein musste.
»Da gibt es nichts zu erklären«, antwortete ich jedoch nur, mit einem verlegenen Lächeln, das ich nur zu einem ganz kleinen Teil schauspielern musste. »Es war ein Missverständnis. Eine Verwechslung. Es tut mir leid.«
»Der Bursche ist mir gerade schon aufgefallen«, rief eine Stimme
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