Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)
ist noch nicht fertig. Und ich fürchte, es wird auch nie fertiggestellt – es mehren sich ja schon Stimmen, die den Straßenbahnbetrieb wegen der immensen Kosten wieder einstellen wollen.«
»Aha. Und wie weit haben wir es noch?«
Allison hatte begriffen, wie das kurze ärgerliche Aufblitzen in ihren Augen bewies. »Wir müssen nicht ganz bis zur Werft. Stockwell & Sons liegt ein gutes Stück davor. Vielleicht noch eine halbe Meile … ich kann mich doch darauf verlassen, dass sie eine hilflose junge Frau beschützen werden, in dieser unsicheren Gegend?«
»Aber selbstverständlich«, versicherte ich. »Geben Sie mir nur rechtzeitig Bescheid, wenn Sie eine sehen.«
Allison lachte, ein Geräusch, in das sich nach kurzem Zögern ein wenig Begeisterung mischte. Mein Optimismus war dagegen nicht echt. Ich vermisste meine Waffe, und das schmerzlich. In Gegenden wie diese war schon so mancher hineingegangen, ohne je wiedergesehen zu werden. Wäre sie tatsächlich meine Tochter gewesen, wie sie gerade behauptet hatte, ich hätte mich dabei nicht wohl gefühlt, sie nach Dunkelwerden in einem solchen Viertel zu wissen, nur in Begleitung eines einzelnen und noch dazu unbewaffneten Mannes.
»Ich passe schon auf Sie auf, Quinn«, versicherte Allison. »Und bevor Sie es sagen: Ich habe genug Freunde in diesem Viertel, um hier nichts befürchten zu müssen. Entspannen Sie sich also. Sie stehen unter meinem Schutz.«
Ich würde ihr auch jetzt kein Stichwort liefern und ihr auch keine Zeit lassen, von sich aus weiterzusprechen. In Ermangelung eines besseren Vorwands machte ich eine Kopfbewegung auf einen hellen Fleck am Himmel, wo sich die Lichter zahlloser brennender Lampen und offener Feuerstellen an der Unterseite tief hängender Wolken spiegelten. »Ist das die Werft?«
Es war zu dunkel und die Entfernung noch zu groß, um Einzelheiten auszumachen, doch allein der Anblick des riesigen Umrisses ließ mir fast den Atem stocken. Schwarz und wie ein von Menschenhand geschaffener Berg ragte er gegen den Himmel auf, unendlich hoch und noch ungleich länger, die Wolken und die Sterne verdeckend, wie ein gewaltiger schwarzer Keil, der aus dem Himmel herausgestanzt worden war und nichts als noch tiefere Schwärze zurückgelassen hatte. Ich kam mir klein vor und unendlich bedeutungslos.
»Das ist beeindruckend, nicht wahr?«, fragte Allison. Da war ein unangemessener Anteil von Stolz in ihrer Stimme, fand ich, der in mir eine genau gegensätzliche Reaktion auslöste, sodass sich meine Antwort auf ein knappes Nicken beschränkte. Trotzdem kostete es mich fast meine gesamte Kraft, den Blick von dem riesigen Umriss zu lösen und weiterzugehen.
»Und wohin müssen wir?«, fragte ich, größtenteils, um mein Unbehagen zu bekämpfen.
Allisons Stirn umwölkte sich. Sie war ein bisschen enttäuscht, und mein schlechtes Gewissen meldete sich. »Nur noch ein paar Schritte. Das große Tor dort hinten, wo das Licht brennt, sehen Sie?«
»Was produzieren sie hier?«, fragte ich.
Allison deutete auf das Blitzsymbol unter dem verschnörkelten Namenszug der Firmeninhaber. »Alles, was damit zu tun hat. Glaube ich.«
»Glauben Sie?«
»Stanley hat hier nur einige Räumlichkeiten angemietet. Ich war ein- oder zweimal hier, aber meistens erst am Abend, wenn die Arbeiter schon nach Hause gegangen waren.« Sie zog eine Schnute. »Stanley hat immer gemeint, dass so etwas nichts für eine Frau wäre … all diese schmutzigen, lauten Männer mit ihren groben Manieren und noch gröberen Scherzen.« So wie sie es sagte (und mich vor allem dabei ansah), erwartete sie auch darauf eine ganz bestimmte Reaktion von mir, die ich ihr aber auch jetzt wieder schuldig blieb. Dass ich dieser jungen Frau deutlich mehr Sympathie entgegenbrachte, als es von einem professionellen Standpunkt aus angemessen wäre, war die eine Sache – die angenehm und bedenklich zugleich war –, aber vielleicht war es dennoch an der Zeit, wieder ein wenig mehr auf Distanz zu gehen.
Zu meiner Erleichterung hatten wir das Gebäude inzwischen fast erreicht, und Allison hob beiläufig die Hand und winkte einer schemenhaften Gestalt hinter dem schmuddeligen Fenster der Pförtnerloge zu. Sie wartete keine Reaktion ab, sondern steuerte das schwere Gittertor daneben an und schob es mit einem Geräusch auf, von dem ich annahm, dass es noch bis Dublin zu hören sein musste. Allison wartete ungeduldig, bis ich mich hinter ihr durch den rostigen Spalt gequetscht hatte, und schloss das Tor
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